Der brüchige Frieden auf dem Westbalkan

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Mit den Protesten gegen die Verleihung des Friedensnobelpreises an den österreichischen Schriftsteller Peter Handke war Ende 2019 das ehemalige Jugoslawien kurzfristig wieder im medialen Blick. Doch ein großer Teil der Öffentlichkeit schaut bis heute mit großem Unverständnis auf einen Konflikt, der ziemlich verworren zu sein scheint. Wir versuchen die Fäden ein wenig zu ordnen.

Jugoslawien - Wie alles begann

Als Reaktion auf die Besetzung von Serbien im Ersten Weltkrieg formte sich 1918 das Königreich Jugoslawien. Dabei entstand aus den ehemals eigenständigen Ländern Serbien, Slowenien und Kroatien und Provinzen des ehemaligen Österreich-Ungarn ein Vielvölkerstaat, der politisch, ethnisch und religiös große Unterschiede aufwies, aber ein gemeinsames Ziel verfolgte: sich gegen die Wiedervereinnahmung durch Österreich-Ungarn zu wehren.

Nach der Zerschlagung des Königreiches Jugoslawiens durch die Achsenmächte während des Zweiten Weltkriegs entstand das zweite Jugoslawien, das sich - im Gegensatz zum Königreich - nunmehr als antifaschistisch verstand und unter der Führung des kommunistischen Partisanen Josip Tito zu einem Demokratisch Föderalen Jugoslawien entwickelte.

Was in Deutschland vielleicht eher unter folkloristischer und touristischer Perspektive als einheitlicher Balkan wahrgenommen wurde und wird, ist also seit über 100 Jahren ein ethnisch und religiös ausgesprochen heterogenes Gebilde, das sich im Wesentlichen als Gemeinschaft gegen einen äußeren Feind verstand. Als Ende der 1980er Jahre der Eiserne Vorhang fiel, brachen sich die unter der Decke gehaltenen Konflikte auch in Jugoslawien Bahn. Die Jugoslawienkriege in den 1990-er Jahren gelten als die blutigsten Konflikte in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, mehr als 100.000 Menschen fielen dem Bosnienkrieg (1992-1995) zum Opfer.

Nach dem Bürgerkrieg: das Dayton-Abkommen

John Kornblum, vielen noch als US-Botschafter in Deutschland bekannt, war als Chefvermittler auf dem Balkan einer der maßgeblichen Akteure des 1995 abgeschlossenen Dayton-Abkommens. Ziel war es, die unterschiedlichen verfeindeten Parteien unter ein Dach zu bekommen und eine pragmatische Handlungsebene zu schaffen. Doch die Konflikte wurden damit nur vordergründig befriedet. Denn die durch das Friedensabkommen hergestellte Staatsordnung manifestierte im Grunde nur das Ergebnis des Balkankrieges, das auf ethnische Teilung abzielte. Das heißt: das Dayton-Abkommen schuf mit einer komplexen Verwaltungsstruktur wiederholt ein künstliches Gebilde, das zusammenfügte, was so nicht zusammenpassen konnte.

Urteile vom Internationalen Gerichtshof und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte

Das Dayton-Abkommen habe, so seine Kritiker, auch die ethnischen Säuberungen nicht genügend verurteilt. Erst der internationale Gerichtshof in Den Haag schaffte hier Rechtssicherheit. Doch als dieser Urteile zu den Massakern von Srebrenica fällte, fühlte sich Serbien zu Unrecht an den Pranger gestellt. Dabei steht fest, dass in der Gegend von Srebrenica im Juli 1995 mehr als 8000 Bosniaken ermordet wurden.

EU-Perspektiven

Das europäische Projekt ist von seiner Grundidee eines, das den Nationalismus überwinden kann und durch den Verbund prinzipiell friedensstiftend und –bewahrend ist. Von daher ist es konsequent, dass mit den ehemaligen jugoslawischen Ländern Gespräche zur Aufnahme in die EU geführt werden. Allerdings brechen auch hier wieder neue Konfliktlinien auf. Denn letztlich gibt es in Bezug auf einen Beitritt – Stand 2019 – drei Gruppen von Ländern:

  • Mitglieder (Slowenien, Kroatien)
  • Gespräche/Verhandlungen (Serbien, Montenegro)
  • Keine Gespräche

Auch dadurch gibt es unter den ehemaligen jugoslawischen Ländern Zwistigkeiten.

Opfer der Gewalt

Und schließlich sind da die nicht aufgearbeiteten Kriegsfolgen: Neben den zahlreichen Opfern in der Zivilbevölkerung, lebt in den Balkanstaaten eine große Anzahl kriegstraumatisierter Menschen, darunter allein zehntausende Frauen, die von Massenvergewaltigungen betroffen waren. 7.000 Kinder sollen dabei gezeugt worden sein.

Viele Frauen haben bis heute über das ihnen zugefügte Leid geschwiegen, andere finden erst allmählich den Mut, darüber zu sprechen. Die Gerichtsprozesse, wenn sich die Täter überhaupt verantworten müssen, sind ein erneutes Spießrutenlaufen, das in der Regel die Täter schützt oder mit laschen Strafen davon kommen lässt. Hilfe erfahren bosnische Frauen zum Beispiel bei Medica Zenica, einer bosnischen Organisation, die mit deutscher Hilfe noch während des Krieges gegründet wurde. Sie war und ist Anlaufstelle für Opfer von Vergewaltigungen und stellt therapeutische und materielle Unterstützung zur Verfügung.

Neben den kaum aufgearbeiteten Traumatisierungen und den andauernden ethnischen und politischen Konflikten haben viele Menschen in den Balkanstaaten auch mit drückender Armut und hoher Arbeitslosigkeit zu kämpfen - insgesamt eine explosive Stimmung, die sich oft in familiärer Gewalt entlädt.

Betrachtet man die politische Großwetterlage, so hat man den Eindruck, dass der Friede auf dem Westbalkan äußerst fragil ist. „Bosnien ist ein Land des Hasses und der Angst. […] Es ist ein Hass, der den Menschen gegen den Menschen aufbringt und alle gleichermaßen ins Elend und ins Unglück stürzt.“ – Diese Zeilen stammen aus einem Brief des Nobelpreisträgers Ivo Andri? von 1920 und zeigen die langen Schatten der Geschichte in einer Gesellschaft, die noch immer auf eine wirkliche Befriedung wartet.

Sarajewo: der Zukunft und dem Leben zugewandt

Doch wer nun glaubt, die Menschen auf dem Balkan kennzeichnen sich vorrangig durch Hoffnungs- und Trostlosigkeit, der irrt. Wer in die Hauptstadt Bosnien-Herzegowinas reist, findet in Sarajevo eine junge, moderne und lebensfrohe Metropole mit vielen kulturellen Events, gut besuchten Cafés und einer positiven Aufbruchsstimmung.

„Die Menschen strahlen eine offene und herzliche Art aus, man fühlt sich wohl. Die Spuren des Krieges sind immer noch in Sarajewo zu spüren: Man entdeckt in der Innenstadt Wohnhäuser mit Löchern (…) [Aber] Mir ist niemand begegnet, der nicht von dem Charme der Stadt in den Bann gezogen wurde und so ging es mir auch. Ich fühlte mich sehr wohl und zu Hause. Ich hatte immer das Gefühl, dass ich willkommen bin.“ schreibt eine junge Studentin aus Deutschland über ihre Eindrücke und Erfahrungen in der bosnischen Hauptstadt.

Dies steht scheinbar im Kontrast zu den gärenden Konflikten, die vielleicht auch eine Altersfrage sind. Die Jugend schaut nach vorn und nach Europa. Und es gibt solche, die sich für eine neue Gesellschaft unter friedlichen Vorzeichen stark machen.

Lichtblicke: Zivilgesellschaftliches Engagement und integrative Persönlichkeiten

Post-Conflict Research Center

Die 2010 in Sarajevo gegründete Nicht-Regierungsorganisation Post-Conflict Research Center ist so eine Organisation, die versucht, mit verschiedenen interethnischen Projekten Toleranz, Verständnis und Zivilcourage zu fördern. Langfristig will man eine Aussöhnung innerhalb von Bosnien und Herzegowina erreichen.

Gegen den Strom: Obren Petrovi?

Obren Petrovi? ist seit 2002 Bürgermeister von Doboj, einer kleinen Stadt nördlich der bosnischen Hauptstadt Sarajevo. Vier Mal ist er wiedergewählt worden. Und das, obwohl er als serbischer Christ einer mehrheitlich bosniakischen, also muslimischen Gemeinde, vorsteht. Gegen den Widerstand der serbischen Partei SNSD, der das Engagement des Bürgermeisters missfällt, setzt Petrovi? auf Ausgleich, wo die serbische Partei noch immer versucht, die Bürger auseinander zu bringen.

Fazit

Prognosen zu geben, ob der Frieden auf dem Westbalkan hält, sind schwierig. Zu groß scheinen die politischen und ethnischen Spannungen zu sein. Zu groß auch die Traumata, die schließlich noch Jahrzehnte nachwirken werden. Und doch gibt es politische Perspektiven und vor allem zivilgesellschaftliches Engagement, das einen hoffen lässt.

Das LIW bietet mehrere Seminare in den Balkanstaaten an, aktuell in Bosnien, Albanien und Kroatien

Bildquelle: Pixabay, Tales Paz