Wer anderen eine Grube gräbt

Wer anderen eine Grube gräbt Header

Eigentlich müsste man die Landkarte lochen! Da dürfte nichts sein an der Stelle! Einfach ein Loch ins Papier stanzen. Ein schlichtes Grau markiert in den Karten normalerweise die Stellen, an denen Braunkohle abgebaut wird. Zu sehr verharmlost das Grau die unglaubliche Natur-Katastrophe dort, wo Tagebautätigkeit herrscht. Eine Katastrophe von Menschen gegen die Natur und auch gegen die eigene. Das Ziel: Die Nutzung der 55 Milliarden Tonnen Kohle im Rheinischen Braunkohlerevier zwischen Köln, Aachen und Mönchengladbach.

Wie die Wolken entstehen

Natürlich, die Tagebautechnik ist eine faszinierende Leistung! Braunkohlenbagger im Tagebau Hambach sind 225 Meter lang, 96 Meter hoch und haben eine Förderleistung von 240.000 Kubikmetern pro Tag. In eine der 18 Schaufeln am Schaufelrad mit über 21 Meter Durchmesser passen über 6 Kubikmeter Material. Etwa 100 Millionen Tonnen Braunkohle werden im Jahr in den drei westlichsten Tagebauen abgebaut und „verstromt“. Sie werden verfeuert, um Wasser zu Dampf zu machen, der dann so effizient wie möglich Turbinen antreibt. Die Abgase gehen dann, so gereinigt wie irgendwie machbar, durch den Schornstein. Vor allem natürlich CO². Pro Kilo etwa ein Kilo. Hinter den Turbinen wird das Wasser wieder gekühlt, es soll ja in die kalten Gewässer zurück. Der Wasserdampf der Kühltürme ist als weiße Wolke zu sehen. Immer. Die Kinder hier glauben, so würden die Wolken gemacht.

Im heutigen westlichen Braunkohlenrevier – die Tagebaue bei Inden, Hambach und Garzweiler – geht das jetzt seit Mitte des letzten Jahrhunderts so. Von den Dreien war Inden der erste. Der Tagebau Inden fördert seitdem die Kohle in das Kraftwerk Weisweiler, eine der größten „Dreckschleudern“ Europas. Auf der Liste der „gesundheitsschädlichsten Kohlekraftwerke Deutschlands“ rangiert das Kraftwerk Weisweiler auf Platz 4. Kraftwerk und Tagebau sind aufeinander angewiesen, das eine kann ohne das andere nicht. Deshalb geht die Gegend dort bei Überlegungen, Kraftwerke nach und nach zu schließen, bisher leer aus.

Stolz und Gesundheit

„Gott sei Dank“, sagen die, die seit Generationen von der Kohleförderung leben. Sie sind stolze Bergmänner und – inzwischen – auch Bergfrauen. Sie haben die verschiedenen Deutschlands zu Wohlstand gebracht. Der Energiehunger der Nachkriegszeit wurde durch ihre Hände gestillt. Und oft mit ihrer Gesundheit bezahlt: Staublunge, Rücken und Gelenke kaputt. Das ist keine Kleinigkeit, sondern verdient jeden erdenklichen Respekt: Sie haben sich für dieses Land und die Leute krummgelegt! Irgendwie muss es ja warm werden in der Bude. Ohne sie kein Wachstum.

„Wir sind ja nicht blöd“, sagen sie heute. „Es ist doch klar, dass das nicht so weitergehen kann mit der Kohleverstromung. Wir haben doch auch Kinder und Enkel, denen wir nicht die Zukunft verbauen wollen.“ Die meisten „Rheinbrauner“ denken so. Aber sie möchten erstens nicht zum „Sündenbock des Klimawandels“ gemacht werden und zweitens „fair abgewickelt“ werden. Nicht sie tragen die Verantwortung für die dramatische Erhitzung der Erde, sondern die Politik, also wir Wähler. Die ganze Republik glaubt an Wohlstand durch Wachstum. Dass das falsch sein soll, ist umstritten – bei Rheinbraunern genauso wie beim Rest der Leute. „Also mal halblang mit den Vorwürfen.“

„Ich möchte noch nicht in Rente,“ sagt Mark B. „Ich mach‘ meinen Job gerne.“ Er ist Schlosser im Tagebau. „Ich bin hier groß geworden, ich hab‘ ein Haus hier in der Nähe und fahre fast jeden Tag mit dem Fahrrad zur Arbeit. Das ist nicht so einfach, da gleichwertigen Ersatz zu bekommen.“

Was ist eigentlich Heimat?

Vor den Löchern war hier Ackerland. Noch davor Wald. Unter ihm entstanden wertvolle Böden, schwer zwar, aber unglaublich fruchtbar. Die Menschen rodeten den Wald und begannen zu ackern. Hier wächst bis heute alles, was man zum Leben braucht. Theoretisch. Die Börde wurde seit mindestens 4.000 Jahren umgepflügt. Das ist an sich schon ein Kulturgut.

Die Grenze zwischen Zülpicher und Jülicher Börde bildete ein sumpfiges Gelände. Auf einem Gebiet von über 40 Quadratkilometern war das Gelände für den menschlichen Ackerbau nicht nutzbar. So blieb der Wald stehen und diente als Holzvorrat, „um die Bude warm“ zu bekommen: Der „Hambi“, der Hambacher Wald! Heute, bis auf ein kleines Restwäldchen, ein 400 Meter tiefes Loch.

Und nach Rodung einer riesigen Waldfläche zugunsten der Stromversorgung unserer Industrie und privaten Elektrogeräte entzündet sich Zorn genau an diesen zwei Quadratkilometern Restwald, die noch vom Abbau bedroht sind: Junge und alte Demonstrierende rufen plötzlich auf den Straßen der Städte: „Hambi bleibt!“ Die letzten Bäume sollen nicht gerodet werden, finden sie. Mal sehen, wie das weitergeht: Dreimal wurde es gerichtlich geprüft, aber das Gebiet ist naturschutzfachlich anscheinend nicht mehr so interessant, dass es geschützt werden muss. RWE dürfte also. Das Unternehmen hat aber den Bestand bis 2020 zugesagt.

Was bleibt und was nicht

Vor zwei Jahren hätte niemand geglaubt, dass die Verstromung von Kohle gestoppt werden könne. Inzwischen hat die „Kohlekommission“ der Bundesregierung den Weg zum Ausstieg beschrieben. Die Tagebaue werden nicht zu Ende betrieben, die Tagebaugrenzen verkleinert. Und Orte, die abgebaggert werden sollten, bleiben nun doch stehen.

Holzweiler ist so ein Ort. 2016 schon wurde per Leitentscheidung der damals rot-grünen Regierung beschlossen, dass die Grenzen des Tagebaus Garzweiler verkleinert würden. Die Menschen in Holzweiler haben jahrzehntelang gedacht, dass sie ihre Heimat verlieren würden. Und jetzt behalten sie ihr Dorf, die Nachbarn, das alte Haus oder den Hof. Holzweiler wird eine Insel im Tagebau werden. Auch Holzweiler demonstriert für den Stopp des Tagebaus: Damit er möglichst weit weg bleibt.

Für Morschenich ist der Umsiedlungsprozess schon abgeschlossen. Der alte Ort liegt noch im Abbaugebiet des Tagebaus Hambach. Der neue Ort steht schon. Die Morschenicher haben es geschafft, ihre Dorfgemeinschaft zu erhalten, fast alle sind an den neuen Standort gezogen. Zehn Jahre wurde am neuen Ort geplant und gebaut. Zehn Jahre war es Gesprächsthema Nummer eins. „Sie werden niemanden in Morschenich-Neu finden, der an den alten Standort zurück will“, glaubt einer der Umgesiedelten. Er habe immer gesagt, wir ziehen um. Seine Heimat sei es aber nicht geworden, das sei eher etwas für seine Enkel. Im Fall Morschenich kann es nun sein, dass der alte Ort stehen bleibt. Wenn der Hambacher Wald nicht abgebaggert wird, kommt RWE nicht an die Kohle unter Morschenich. Die liegt dort 400 Meter tief, man kann so tief nicht einfach um den Wald herumbaggern. Und dann? Zwei Orte?

Die Demonstrationen, die sich für den Erhalt der alten Dörfer stark machen, spalten so manche Dorfgemeinschaft. Aus Keyenberg wollen viele so schnell wie möglich weg. Keyenberg sei nicht mehr lebenswert: Der Tagebau liegt nah am Ort. Der Lärm der Großgeräte und Förderbänder ist hörbar. Viele Häuser in Keyenberg stehen schon leer. Viele der Menschen sind schon weg. Die anderen wollen bleiben: „Keyenberg ist meine Heimat. Die kann mir RWE nirgendwo sonst hinbauen.“ RWE wird Keyenberg 2023 oder 2024 erreichen, die Nachbardörfer in den Jahren danach.

Manche Dorfbewohner möchten ein Ende der Demonstrationen, einfach Ruhe haben. Aber das wird dauern, im Hambacher Wald sind die Aktivisten immer noch in ihren Baumhäusern, das Bündnis für den Erhalt der alten Dörfer ist aktiv, und „Ende Gelände“ kämpft mit Klimacamps gegen die Kohleverstromung. Immer wieder Angriffe auf RWE-Leute, besetzte Bagger, Polizeieinsätze.

Der Strukturwandel hat längst begonnen

Die ganze Region kommt nicht zur Ruhe. Ein gewisses Maß an Unruhe ist man hier gewöhnt. Tagebaue wandern, vorne wird Landschaft abgebaggert, hinten wird sie wieder aufgeschüttet. Oft mit höherem ökologischen Wert als vorher. Vorne ändert sich ständig irgendein Straßenverlauf, hinten werden Erholungsgebiete geschüttet, Wald, Äcker, Siedlungen entstehen neu. Die erste Umsiedlung, Bottenbroich, begann übrigens schon 1938. Neu-Bottenbroicher haben schon Enkel. Spektakulär war die Umlegung des kleinen Flusses Inde. Aus fünf langweiligen Kilometern begradigtem Gewässer machte RWE zwölf Kilometer Flussaue mit maximaler Artenvielfalt und großem Erholungswert. 2005 wurde das Wasser ins neue Indebett gelassen.
2030 wird noch mehr Wasser kommen: Der erste Tagebau-Restsee wird gerade modelliert: Das Indesche Meer, etwa so groß wie der Tegernsee, ist voraussichtlich 2060 voll. Ein Hambacher und Garzweiler Restsee werden folgen.

Der jetzt so plötzlich wirkende wirtschaftliche Strukturwandel läuft in der Tagebauregion des Rheinischen Reviers schon lange. Strukturwandel brauchen Zeit, und das Datum des Braunkohlenendes ist ja schon lange bekannt. Die Behutsamkeit, mit der bisher in der Region vorgegangen werden konnte, wird wahrscheinlich mit dem Beschluss der Kommission dahin sein. Die verkürzten Laufzeiten verunsichern die Menschen natürlich. Auch die Wirtschaft möchte schnell Planungssicherheit. RWE sagt deutlich, dass die Politik jetzt am Zug sei. „Sie muss Gesetze zur Strukturförderung in den Regionen und zur sozialen Absicherung der Beschäftigten auf den Weg bringen.“ RWE selbst sieht sich dabei vor allem unterstützend und als verlässlicher Partner.

Zukunftsregion

Die ganze Region ist längst auf dem Kurs der erneuerbaren Energien. Jülich machte schon 2008 mit dem Solarturm Schlagzeilen. Gemeinsam mit dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Köln entwickelte das Solarinstitut Jülich das Solarthermische Versuchskraftwerk, das zur Stromgewinnung zum Beispiel in Südeuropa eingesetzt werden kann. Gerade wird eins in Algerien gebaut.

Aachen mit seiner FH und der RWTH forscht im Bereich zukunftsfähiger Technologien und setzt immer wieder Projekte um. Ein aktuelles Beispiel ist der elektrisch fahrende Lieferwagen der Post. Der Wagen ist ein Renner bei Unternehmen, die tags liefern und nachts laden können. Die Post baut inzwischen diesen Streetscootern an zwei Standorten in der Region. 8.000 Fahrzeuge hält sie selbst. Der Streetscooter wurde von einem Forscherteam der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) in Aachen konstruiert. Das Team gründete 2010 das Unternehmen und verkaufte 2014 an die Deutsche Post DHL.

RWE selbst plant gerade zusammen mit dem DLR und der Fachhochschule Aachen ein Pilotprojekt zur Energiespeicherung auf Flüssigsalzbasis. So könnten Ökostrom-Kraftwerke gepuffert werden. Die gespeicherte Wärme würde in den ehemaligen Kraftwerken die Turbinen drehen. Der Landkreis Düren sei als letztes Beispiel genannt. Er hat gerade beschlossen, den Nahverkehr massiv zu verbessern. Unter anderem mit besseren Anbindungen der Dörfer.

„Hambi bleibt“ hat viel bewirkt im Rheinischen Braunkohlenrevier. Bei der Suche nach dem besten Weg in die Zukunft vereint die unterschiedlichen Positionen eine Forderung: Flexibilität ist gefragt. Menschen in einer Region, die sich seit Jahrzehnten mit Veränderungen auseinandersetzen müssen, haben eine gute Voraussetzung, diese Flexibilität aufzubringen. In einem sehenswerten Film des Künstlers Jan Rehwinkel über die Umsiedlung des Ortes Inden bis 1999 sagt ein alter Herr: „Man hätte sie damals mit der Mistgabel wegjagen müssen.“ Haben sie nicht getan.

Autor: Andreas Schneider, LIW-Seminardozent. Er lebt in der Rheinischen Braunkohletagebau-Region.

Bildquelle: Andreas Schneider

Das LIW bietet ein Seminar zum Thema an, bei dem der Braunkohletagebau in der Jülicher Börde besucht wird.