Wohin entwickelt sich die Demokratie?

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Die Belege scheinen erdrückend. Privilegierte Eliten entscheiden und die repräsentative Demokratie ist nur noch eine formelle Beteiligung ohne wirkliche Einflussnahme. Postdemokratie – so das Schlagwort – bestimmt den politischen Diskurs. Stimmt die Diagnose?

Ohne Frage - formal gesehen ist die Demokratie noch intakt: periodische Wahlen, Parteien­konkurrenz, Gewaltenteilung, Meinungs- und Konsensbildung. Auf der anderen Seite mehren sich die Stimmen, die unsere modernen Gesellschaften auf dem Weg in die Postdemokratie sehen: die meisten Bürger spielten hier lediglich eine passive Rolle. Der tatsächliche politische Prozess finde oft nicht mehr in demokratisch legitimierten Parlamenten statt, sondern in supranationalen (z.B. EU) Organisationen und in nicht-öffentlichen Arenen, den berühmten Hinterzimmern. Für viele Bürger ist die Politik ein stummes Gegenüber geworden. Die Folgen: Ohnmacht, Vertrauensverlust, Politikverdrossenheit.


Postdemokratie ist ein Begriff, der seit den 1990er-Jahren in den Sozialwissenschaften vermehrt Verwendung findet, um eine aktuelle generelle Veränderung demokratischer Systeme zu erfassen. Grundthese ist, dass es einen Rückbau tatsächlicher politischer Partizipation gibt zugunsten einer lediglich demonstrierten Demokratie, indem z. B. Wahlen zu einem formalen und tatsächlich folgenlosen Verfahren werden. Maßgeblich geprägt und verbreitet wurde der Begriff durch eine Publikation des britischen Politikwissenschaftlers Colin Crouch aus dem Jahr 2004.


Gefahr oder Siegeszug?

53 Prozent der deutschen Bevölkerung sehen laut einer repräsentativen Umfrage von YouGov im Jahr 2019 die Demokratie in Gefahr, insbesondere von rechts. 54 Prozent sind mit der derzeitigen Demokratie in Deutschland zufrieden, 46 Prozent unzufrieden. Allerdings haben Unzufriedenheit und Demokratiekrise unterschiedliche Gründe und Ursachen.

Zunächst einmal gibt es grundsätzlich zwei verschiedene Erzählungen über die Demokratie.

Die liberal-konservative Sichtweise lautet: Demokratie wird sich als die beste Regierungsform weltweit früher oder später durchsetzen. Der arabische Frühling, das Erstarken der Zivilgesellschaft im Iran, die Jugendproteste in Brasilien werden dafür exemplarisch als Belege angeführt. Und wenn es eine Bedrohung der Demokratie gibt, dann kommt diese von außen.

Die zweite, eher dem linken politischen Lager zugerechnete Erzählung von der Postdemokratie fokussiert den Niedergang. Sie beschreibt, dass es lediglich ein formal-demokratisches Verfahren gäbe, aber die Politik durch sogenannte ökonomische Eliten gelenkt werde. Oft würden nur Placebo-Debatten geführt, aber Entscheidungen anderswo getroffen. Die Demokratie wird also von innen ausgehöhlt.

Für beide Sichtweisen gibt es stützende Belege, aber keine hinreichenden Erklärungen. Ändern wir den Blickwinkel und betrachten einmal Ost und West, um die unterschiedlichen Wurzeln der Demokratiekrise zu erklären.

Das Geld, die Macht und die NGOs

Die insbesondere bei Linken beliebte Erzählung sieht globale Einrichtungen und Institutionen wie das Weltwirtschaftsforum, die G9-Treffen oder den Internationalen Währungsfonds ebenso wie multinationale Großkonzerne als die wirklichen Machtzentren der Welt. Und zweifelsohne wird über wirtschaftliche Stärke auch politische Macht via Lobbyarbeit ausgeübt.

Gleichzeitig ist diese Lobbyarbeit beeinflussbar. Bestes Beispiel: Die Klimaschutzdebatte. Ausgehend von Initiativen von Nicht-Regierungsorganisationen wie Fridays for Future hat beispielsweise Anfang 2020 der weltgrößte private Vermögensverwalter, BlackRock, verkündet, künftig nur noch in nachhaltige Unternehmen investieren zu wollen. Und auch die Bundesregierung hat nach Auftritten von Klimaschützern bei den Vereinten Nationen oder dem Weltwirtschaftsforum ihr Klimapaket deutlich nachgebessert. Dieser mögliche und wirksame Einfluss von unten nach oben steht den herkömmlichen Verschwörungstheorien komplett entgegen.

Der Historiker Paul Nolte sieht hier eine klare historische Linie: „Die partizipatorische Protest­ und Bewegungsdemokratie ist die historisch vermutlich wichtigste Innovation in der Geschichte der Demokratie des vergangenen halben Jahrhunderts. Sie hat die repräsentative Demokratie nicht abgelöst, aber sie […] ergänzt und überlagert.“

Ost und West: Unterschiedliche zivilgesellschaftliche Erfahrungen

Diese Entwicklungslinie trifft insbesondere auf Westdeutschland zu, wohingegen im Osten der Republik gänzlich andere Demokratie-Erfahrungen vorliegen.

Prägend für die heutige 40+-Generation ist der friedliche Fall des Eisernen Vorhangs, ein Vorgang, der seinerseits Ausdruck eines Strebens nach Demokratie war. Doch die Ost-Erfahrung ist auch eine der enttäuschten Hoffnungen, insbesondere was Partizipation und Einflussnahme angeht. Der theoretischen Vermittlung, dass Demokratie auch ein Versprechen für sozialen Ausgleich sei und es um ethisch-geistige Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenlebens gehe, standen im Osten konkrete Erfahrungen mit der westdeutsch geprägten Demokratie gegenüber: Individualität, Ellenbogengesellschaft, Arbeitslosigkeit, geringe Wertschätzung der Ost-Biografien, Verlust der familiären Wurzeln durch arbeitsbedingten Wegzug.

Die durchaus widersprüchliche, aber äußerst prägende zivilgesellschaftliche Entwicklung der sogenannten 1968er im Westen fehlt im konkreten Erleben im Osten, nämlich: außerparlamenta­rische politische Einflussnahme ist jenseits klassischer Lobbyarbeit möglich und erfolgreich.

Und so passt es ins Bild, dass trotz einer Bundeskanzlerin mit ostdeutscher Biografie, Ostdeutsche insgesamt in verantwortlichen Positionen von Politik und Gesellschaft unterrepräsentiert bleiben. Und es verwundert nicht, dass insbesondere vor diesem Hintergrund die Frage zunehmend lauter gestellt wird, ob die Demokratie vielleicht doch nicht die beste aller Regierungsformen ist.

Das Internet, Selfpublishing und neue Lobbys

Eine Erfahrung eint Ost und West wieder: das Internet ist seit den 1990er Jahren für alle Neuland. Es bringt neue Erfahrungen, Chancen und Risiken. Vor allem veränderte es die Wahrnehmung demokratischer Entscheidungsprozesse.

Mit dem Siegeszug des Internet einher ging in den letzten zwei Jahrzehnten, dass traditionelle Medien massiv an Auflage verloren und sich ihre Rolle als Kontrollinstanz und vierte Macht im Staate zunehmend verringerte.

Parallel wuchsen Online-Plattformen wie Facebook, Twitter und Youtube heran und sorgten in den Folgejahren für große Reichweiten. Für Furore sorgte vor der Europawahl im Mai 2019 ein Video des Webvideoproduzenten Rezo, der sich mit der mangelnden Klimapolitik der CDU (und anderer Parteien) auseinandersetzte. Mit bis zum Wahltag mehr als 10 Millionen Abrufen des Videos wurde der Wahlausgang durchaus in Verbindung mit dem Video gebracht.

Wenngleich das Rezo-Video von seiner Reichweite her seinesgleichen in Deutschland sucht, ist doch deutlich, dass sich insgesamt die Einflussnahme von den traditionellen Medien weg auf eine Vielzahl digitaler Kanäle verschoben hat.

Darauf, dass politische Diskurse immer häufiger außerhalb der traditionellen Medien stattfinden und sich damit ein Teil der demokratischen Willensbildung in einer weit verstreuten Medienlandschaft ereignet, ist ein großer Teil der Bevölkerung nicht vorbereitet. Vielfach fehlt es an:

  • Hintergrundwissen über das Wirken von Medien
  • Wissen über die Auswahl und Bearbeitung von Medien
  • Kenntnis von rhetorischen Konzepten
  • Fähigkeit zum Erkennen offener und versteckter Werbung
  • Fähigkeit zur kritischen Quellenbewertung

Hier liegen ganz ohne Frage Gefahren, die entstehen durch

  • Blasen-Bildung (man liest nur noch seine eigene Meinung)
  • Einflussnahme durch algorithmengesteuerte Werbung
  • verdeckte Einflüsse durch ausländische Regierungen
  • professionelle Internet-Trolle, die Diskussionen manipulieren

Gleichzeitig bergen die digitalen Medien große Potenziale, eine breitere Meinungsbildung zu organisieren, als sie in der traditionellen Demokratie bislang vorhanden ist. Insbesondere in Regimes mit einer staatlich kontrollierten Medienlandschaft ermöglicht das Internet erst eine unabhängige Meinungsbildung.

Helden statt Visionen?

Während Willy Brandts Vision, die er im Slogan „Mehr Demokratie wagen“ zusammenfasste, 1969 ganz offensichtlich Menschen begeistern konnte, fehlt eine solche im heutigen politischen Geschehen. Doch ohne eine allgemeinverständliche und von der Mehrheit getragenen Vision von Gesellschaft ist es schwer, wenn nicht unmöglich, gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen. Statt Visionen gibt es stattdessen in den Medien und im politischen Diskurs ein Bedürfnis nach Helden.

Darauf verweist die Journalistin Judith Leister in dem Essay "Gibt es ein Comeback des Helden?". Dieses zeige sich nicht nur in der großen Zahl von Helden-Geschichten im Kino. Sondern im Alltag wird häufiger auf Helden verwiesen: da wird die Umweltaktivistin Greta Thunberg als Klima-Heldin gefeiert, Donald Trump vergleicht sich mit Batman, Boris Johnson mit Hulk. Auch Sachbücher und Zeitschriften greifen zunehmend Helden und Superhelden auf.

Judith Leister sieht das Heldenbedürfnis als Krisensymptom, weil „der Held gerade dazu da sei, durch Regelverletzung den Status-quo zu transzendieren und so eine Gesellschaft aus der Krise zu führen." Das bedient nicht nur den politischen Populismus von rechts und links, sondern ruft - wie bei Nicht-Regierungsorganisation Extinction Rebellion - nach einem Außerkraftsetzen der Demokratie, wie der Mitbegründer Roger Hallam in einem Interview 2019 im Spiegel äußert.

Der Held wird als Einzelner zum Erlöser, zum Führer, der allein in der Lage ist, das Land, die Gesellschaft oder eben gleich mal die Welt zu retten. Die Überhöhung ins Religiöse ist dabei durchaus gewollt, wenn zum Beispiel Extinction Rebellion die Demokratie als unmoralisches System beschreibt oder Populisten die komplexen Prozesse der Meinungs- und Konsensbildung als zu langsam anprangern. Die Notstands-Rhetorik dient dann schließlich als Rechtfertigung, die bisherigen politischen Konsens-Grenzen zu überschreiten.

Mehr politische Bildung wagen

Eine weitere Herausforderung liegt in der mangelnden (politischen) Bildung. Wer nicht grundsätzlich an die Einflussnahme und Gestaltbarkeit von Prozessen glaubt und positive Erfahrung gesammelt hat, wird kaum Interesse für politische Betätigung aufbringen. Insbesondere Menschen aus bildungsfernen Schichten finden sich weder in der jetzigen Demokratie noch in anderen Bürgerbeteiligungsverfahren ausreichend wieder. Diese Unzufriedenheit mit der politischen Willensbildung und dem Nicht-Verstehen häufig intellektuell argumentierenden Politiker äußert sich vielfach im Zustrom von populistischen Parteien, die für sich in Anspruch nehmen, das Volk zu vertreten, aber zumeist zu kurz greifende Lösungen anbieten. Die eigentliche Herausforderung liegt jedoch darin, Demokratie in Schule, Beruf und Alltag neu erleb- und lernbar zu machen.

Neue Partizipationsverfahren gesucht

Wenn es in der Diskussion um die Weiterentwicklung der Demokratie in einer globalisierten Welt geht, so liegt in vielen Beiträgen der Fokus interessanterweise gerade wieder auf kommunaler Ebene, wo die Politik unmittelbare und direkte Auswirkungen auf die Gesellschaft hat.

Neue und alte Partizipationsverfahren kommen ins Spiel, um die demokratische Willensbildung auf eine neue Ebene zu heben: Mediationsverfahren, Runde Tische, Liquid Democracy, Bürgerent­scheide, zivilgesellschaftliche Proteste, Bürgerinitiativen.

Eine einfache Lösung für die Weiterentwicklung der Demokratie sind diese Ansätze jedoch nicht. Denn die Interessen und Bedürfnisse von Menschen, die sich nicht gut artikulieren können, Migrant*innen oder sogenannte bildungsferne Schichten, finden sich weder in der jetzigen Demokratie noch in anderen Bürgerbeteiligungsverfahren ausreichend wieder. Verschärft werden die Unterschiede noch durch die Internetmedien, deren physischer Zugang zwar nahezu jedem offen steht. Aber ein tieferes Verständnis der Möglichkeiten und Strukturen bleibt überwiegend der Bildungsschicht vorbehalten.

Werden für die Einbeziehung von Migrant*innen und anderen „sprachlosen“ Schichten in die Willensbildung keine adäquaten Antworten gefunden, wird sich der Demokratieverdruss der neuen Unterschichten weiter intensivieren.

Doch der Historiker Paul Nolte tröstet uns: „In ihrer Geschichte seit dem 18. Jahrhundert stand die Demokratie immer wieder im Zentrum von Erwartungen und Enttäuschungen, von Konflikten und Aushandlungs­prozessen mit offenem Ausgang.“

Und, so mag man ergänzen, sie hat sich, generationsübergreifende Zeiträume betrachtend, immer wieder neu erfunden. Nur geht das nicht von allein. Wir sind gefragt, neue Lösungsansätze mit zu erarbeiten.

Foto: Pixabay, Hans Braxmeier

Mehrere Seminare des LIW machen sich auf Spurensuche nach dem Zustand der Demokratie in Deutschland und Europa