Deutsch überall?

Deutsche Minderheiten Header

Dass Deutsch in Deutschland, Österreich und der Schweiz gesprochen wird, ist bekannt. Aber wussten Sie, dass es weltweit in mehr als 60 Ländern der Erde deutschsprachige Minderheiten gibt? In Argentinien ebenso wie in Aserbeidschan oder Australien? Auf allen Kontinenten finden sich größere und kleinere deutschsprachige Gemeinschaften. Die Gründe dafür sind vielfältig. Die deutschen Wurzeln werden dabei sehr unterschiedlich gelebt und gepflegt und haben eine unterschiedlich lange Geschichte. Wir werfen einen Blick auf die Geschichte(n) und Besonderheiten.

Verlässliche Zahlen gibt es nicht, doch man schätzt, dass weltweit mehr als eine Million Menschen zu einer deutschsprachigen Minderheit im Ausland gehören. Dabei reichen die Schätzungen und Erhebungen von rund 100 Sprechern in Turkmenistan bis zu 500.000 Menschen in der Russischen Föderation. Schwerpunktmäßig verteilen sich die deutschen Minderheiten auf Europa und Gebiete der ehemaligen Sowjetunion. Doch auch in Nord- und Südamerika, Afrika und in Australien finden sich nennenswerte Minderheiten, die sich mehr oder weniger auf ihre deutsche oder deutschsprachige Kultur beziehen

Viele deutsche Minderheiten im Ausland entstanden in den vergangenen Jahrhunderten unter anderem durch die deutsche Ostkolonisation, durch gezielte Auswanderungsbewegungen, durch religiös oder politisch motivierte Flüchtlingsströme sowie durch Grenzverschiebungen und Vertreibungen nach Kriegen, vor allem den beiden Weltkriegen im 20. Jahrhundert.

Zwischen Abgrenzung und Assimilation: Grundsätzliche Mechanismen

Für Minderheiten stellt sich die Frage nach Identität viel stärker als in einem weitgehend kulturell homogenen Raum. Die Beantwortung der Frage „Wer bin ich in erster Linie? Deutscher oder …“ hängt dabei von vielem ab: Wie ist der rechtliche Status der Minderheitensprache? Wie gestaltet sich politische und gesellschaftliche Teilhabe? Wie gestaltet sich der Kulturkontakt zur Mehrheitsgesellschaft, ist sie einbezogen oder ausgegrenzt? Lebt die Minderheit verstreut oder in deutschen Gemeinschaften?

jwberry

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Bildquelle: Wikipedia

Für den Kulturpsychologen John W. Berry ergeben sich prinzipiell vier mögliche Verhaltensweisen gegenüber einer Mehrheitsgesellschaft. Diese macht er an zwei Aspekten fest: Kontakt zur Mehrheitsgesellschaft und das Bewahren der eigenen Kultur.

Beispiele für deutsche Minderheiten

Die Hintergründe für das Entstehen deutschsprachiger Minderheiten im Ausland sind vielfältig, ebenso wie das heutige Erscheinungsbild und das Verhältnis zur jeweiligen Mehrheitsgesellschaft. Nachfolgend stellen wir vier sehr unterschiedliche Hintergründe exemplarisch vor.

Kolonialer Geist: Namibia

Die deutsche Minderheit in Namibia ist eine der wenigen, die einen kolonialen Hintergrund hat. Ausgangspunkt war eine deutsche christliche Mission Mitte des 19. Jahrhunderts in deren Folge das Deutsche Reich Deutsch-Südwestafrika offiziell zur Kolonie erklärte. Damit setzte eine immer stärker werdende Migration aus Deutschland ein. Dunkelstes Kapitel der deutschen Kolonialgeschichte ist die brutale Niederschlagung von Aufständen der Herero und Nama gegen die deutsche Kolonialmacht während der Jahre 1904 bis 1908. Von vielen mittlerweile als Völkermord bezeichnet, erfolgt die Aufarbeitung bis heute nur zögerlich.

Mit dem Ende des 1. Weltkriegs musste Deutschland auf seine Kolonien verzichten und viele Deutsche wurden vertrieben. Nach dem Zweiten Weltkrieg betrieb Südafrika eine Apartheidpolitik, die einerseits zu einem Entstehen und Erstarken einer schwarzen Widerstandsbewegung führte, andererseits verbesserte sich das Verhältnis der südafrikanischen Mandatsverwaltung zur deutschstämmigen Bevölkerung, weil sie in ihnen Verbündete sahen. Vor diesem Hintergrund geschahen nun weitere Zuwanderungen aus Deutschland.

Die meisten der im heutigen Namibia lebenden Deutschnamibier sind direkte Nachfahren der deutschen Kolonialherren und haben zumeist die deutsche und die namibische Staatsangehörigkeit. Heute stellen die Deutschnamibier etwa 1 % der Bevölkerung und sind politisch wenig präsent, die Spuren der deutschen Kolonialherren prägen die Architektur und Mentalität jedoch bis heute. Bei Erhebungen 2011 gaben etwa 20.000 Namibier Deutsch als Muttersprache an. Man vermutet, dass Deutsch als Zweitsprache von mehreren hunderttausend Namibiern gesprochen wird. Seit dem frühen 20. Jahrhundert hat sich sogar eine eigenständige deutsch-namibische Literatur entwickelt.

Und noch etwas ist von den Deutschstämmigen geblieben: Brauchtumspflege. Karneval oder Oktoberfest sind hier feste Größen. Organisiert werden diese Feste von Vereinen, die in der kulturellen Interessensvertretung, dem Deutschen Kulturrat organisiert sind. Gefeiert wird jedoch zumeist nur unter Weißen...

Doppelidentitäten: Ungarndeutsche

Erste deutsche Spuren in Ungarn gehen bis auf das Jahr 1000 zurück. Eine starke Einwanderung erfolgte nach den Türkenkriegen zwischen 1700 bis 1750. Auch wenn geografisch nicht korrekt, werden die deutschsprachigen Einwanderer häufig als Donauschwaben bezeichnet. Heute befinden sich die wichtigsten Siedlungsgebiete der Ungarndeutschen um die Hauptstadt Budapest sowie im westlichen und südlichen Landesteil.

Bereits Ende des 18. Jahrhunderts war Ungarn ein Vielvölkerstaat, in dem die Deutschsprachigen zunächst hauptsächlich die Landwirtschaft, später auch das Handwerk dominierten. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung blühte auch die deutsche Kultur mit eigenen Zeitungen und Zeitschriften auf. 1812 eröffnete in Budapest ein deutschsprachiges Theater.

Gleichzeitig gab es im Vielvölkerstaat starke nationalistische Strömungen – die sogenannte Magyarisierung – die zum Ziel hatten, die nichtungarische Bevölkerung zu assimilieren. Nicht zuletzt die zunehmende Unterdrückung der deutschen Minderheit führte zu Konflikten zwischen der ungarischen und reichsdeutschen Regierung.

Die häufig dem nationalsozialistischen deutschen Regime nahestehenden Ungarndeutsche wurden nach dem Zweiten Weltkrieg verschleppt, enteignet und vertrieben. Den zurückgebliebenen Ungarndeutschen wurde die Staatsbürgerschaft aberkannt, was sie zu Staatenlosen machte. Viele verließen das Land. Bis in die 1970er Jahre herrschte eine ausgesprochen deutschfeindliche Stimmung. Erst Mitte der 1980er Jahre setzte ein Tauwetter ein. Deutsch als Minderheitensprache wurde nun wieder zugelassen. Mit dem Fall des Kommunismus stieg auch die Zahl der Deutschsprachigen wieder an: Bekannten sich 2001 rund 62.000 Menschen zur deutschsprachigen Minderheit, waren es zehn Jahre später mehr als doppelt so viele, nämlich rund 132.000.

In 165 Orten und Gemeinden konnten Ungarndeutsche seit 1994 wieder Selbstverwaltungen einrichten. Auf gesamtstaatlicher Ebene gibt es seit 1995 eine Vollversammlung der Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen. Sie ist gewissermaßen das Parlament der deutschen Minderheiten und direkt oder indirekt an Bildungseinrichtungen beteiligt.

Jen? Kaltenbach, ehemaliger ungarischer Parlamentsbeauftragter für Minderheitenrechte resümiert, dass ein starker Assimilationsprozess der Ungarndeutschen stattgefunden habe und hier kein ausgeprägtes Identitätsbewusstsein, sondern eher eine Doppelidentität bestehe.

Parallelgesellschaft: Mallorca

Deutsche Minderheiten sind nicht immer historisch begründet: Auf Mallorca, der Lieblingsinsel der Deutschen, begann eine nennenswerte Einwanderung aus Deutschland erst in den 1960er Jahren. Mittlerweile leben mehr als 30.000 Deutsche auf der Insel, die dort ihren Arbeitsplatz oder Altersruhesitz haben und fast 4 % der Bevölkerung ausmachen.

Die deutsche Minderheit hat dabei in fast 60 Jahren eine komplette Parallelgesellschaft aufgebaut: deutsche Bäcker, Schlachter, Klempner, Elektriker, Partyservice, Restaurants, zwei deutschsprachige Wochenzeitungen, ein deutschsprachiger Radiosender und zwölf deutschsprachige Privatschulen sorgen dafür, dass sie auch als Gäste höchstens einzelne Wörter auf Spanisch oder Mallorquinisch sprechen müssen.

„Mallorca ist wie Kreuzberg. Nur umgekehrt“, meint der auf der Insel lebende Schriftsteller Ulrich Magnus Hammer und fasst damit zusammen, wie das Nebeneinander von Mallorquinern und Deutschen aussieht: Sie essen zu anderen Zeiten, haben andere Geschmäcker, unterschiedliche Vorstellungen von Geselligkeit, verschiedene Auffassungen von Spaß, konträre Lebensentwürfe. Der Deutsche wird geduldet, aber nicht geliebt. Erfolgreiche Integration sieht anders aus...

Weitgehende Autarkie: Belgien

Die deutsche Minderheit im heutigen Belgien ist ein typisches Beispiel, wie stark diese zum politischen Spielball wurde. Das ehemals preußische Siedlungsgebiet fiel durch den Friedensvertrag von Versailles an Belgien, wurde im Zweiten Weltkrieg von Deutschland annektiert und nach Kriegsende wieder Belgien zugesprochen.

Knapp 80.000 Bewohner werden heute zur Deutschsprachigen Gemeinschaft gezählt, die neben der Französischen und der Flämischen Gemeinschaft den dritten Gliedstaat Belgiens bildet. Im Vergleich zu anderen deutschsprachigen Minderheiten ist sie in Belgien politisch weitgehend autark. Begünstigt hat dies ein weitgehend geschlossenes Siedlungsgebiet, aber vor allem der Streit zwischen Wallonen und Flamen, der letztlich zu einer föderalen Struktur geführt hat.

So hat ein eigenes Parlament weitreichende Entscheidungshoheiten und fast die gleichen Rechte wie ein deutsches Bundesland. Und das könnte es auch werden: Wenn die seit Jahren anhaltenden Auseinandersetzungen zwischen Wallonen und Flamen wirklich in einer Auflösung der Gemeinschaft gipfeln, gibt es seit vielen Jahren immer wieder Überlegungen in der Deutschen Gemeinschaft, entweder mit dem angrenzenden Luxemburg oder Deutschland zusammenzugehen. Dabei sind die Vorlieben durchaus unterschiedlich verteilt. Doch kommt der belgische König in die deutschen Gebiete, jubelt man ihm zu, wie sonst kaum im Land. Die Deutschen gelten als die treuesten Belgier – gleichzeitig werden ihnen am meisten deutsche Tugenden wie Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und Fleiß unterstellt. Besonders der jüngeren Generation gelingt es, die Vorzüge beider Kulturen gut zu integrieren. Sie sind längst stärker in Europa als im Nationalstaat angekommen und wissen die Vorzüge der unterschiedlichen Kulturen zu schätzen.

Fazit

Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Diskussionen um Einwanderung, Leitkultur und der Forderung, dass sich Flüchtlinge in einer Mehrheitsgesellschaft integrieren sollten, ist es interessant zu sehen, dass auch Deutsche im Ausland mit ähnlichen Herausforderungen zu kämpfen haben. Mancherorts gelingt Integration reibungslos, anderenorts bilden deutsche Minderheiten Parallelgesellschaften.

Erstaunlich ist vor diesem Hintergrund auch die Weitsicht des ungarischen Königs, der um das Jahr 1000 gegenüber seinem Sohn die Kolonisation des Landes durch sogenannte Gastsiedler für wichtig erachtete. Er fand, dass Gäste, die verschiedene Sprachen und Sitten mit sich brächten, den Wohlstand des Hofes steigern könnten. „Schwach und vergänglich ist ein Reich, in dem nur eine Sprache gesprochen wird.“

Das LIW bietet Seminare in mehreren Ländern an, in denen deutsche Minderheiten beheimatet sind oder Spuren hinterlassen haben, so zum Beispiel in Westungarn oder Polen. Einen Überblick finden Sie hier