Sei Held Deines Lebens. Oder: Warum wir Heldenreisen lieben

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Es ist ein friedlicher Tag. Alles ist wie immer. Doch dann gibt es diesen einen Moment, der alles Bisherige in Frage stellt. Es muss sich etwas ändern. Nach einer Zeit vieler Zweifel wird mit dem, was einst war, gebrochen. Das kommt Ihnen bekannt vor? Kein Wunder, denn es ist Teil eines schon in Mythen vorhandenen Musters, der Heldenreise. Woher kommt sie und wie kann die Heldenreise für die Persönlichkeitsentwicklung nützlich sein?

Vladimir Propp war einer der ersten, der bei der Untersuchung russischer Märchen wiederkehrende Muster erkannte und 1928 in seiner Morphologie des Märchens beschrieb. Der US-Amerikaner Joseph Campbell, der rund 20 Jahre später Mythen vieler Völker untersuchte, fand heraus, dass ihnen allen ähnliche, universelle Muster zugrunde liegen. Ein zentrales Konzept war hierbei die Heldenreise.

Die jahrtausendealten Erzählungen müssen dabei zunächst als mündlich überlieferte Erzählungen verstanden werden, die den Zweck hatten, dem Einzelnen und der Gruppe – ob Stamm, Stadt oder Staat – als Leitbild zu dienen. Pointiert betrachtet, sind die erzählten Mythen Vorläufer der heutigen Ratgeberliteratur.

Doch die Idee der Heldenreise als Typologie für eine individuelle Entwicklung im Sinne eines „Werde, der du bist“ wurde zunächst nur von der Filmindustrie als Leitlinie für die Filmdramaturgie entdeckt und genutzt. Es dauerte noch einmal etwas mehr als 20 Jahre bis Paul Rebillot die Heldenreise dahin zurückbrachte, wo sie eigentlich herkam – in den Bereich der Persönlichkeitsent­wicklung. An die Stelle des Geschichtenerzählers oder Schamanen des Stammes tritt nun der Seminarleiter oder Coach.

Joseph Campbells Heldenreise hatte C. G. Jungs Konzept der Individuation mitgedacht. Im Individuationsprozess wird der Mensch zu dem, was er wirklich ist, was seine eigentliche Bestimmung ist. Paul Rebillot übernahm den 12-stufigen Aufbau der Heldenreise seines Landsmannes Campbell und entwickelte daraus einen gestalttherapeutischen Ansatz. Dabei stellte er im Prinzip die gleichen Fragen, die ein Drehbuchautor an seinen Helden hat. Claudia Molitor, die im LIW die Dramaturgie der Mythen nutzt, unterstützt diesen Ansatz:

„Ein Entwicklungs- und Veränderungsprozess vollzieht sich immer innerhalb einer ähnlichen Abfolge. Diese Dramaturgie ist kollektives Wissen, das jeden Menschen berührt. Was also eint sie alle? Helden verlassen gewohnte Bahnen, überwinden Schwellen, stellen sich ihren größten Ängsten und wagen Neues.“

Die Heldenreise als Erkenntnisprozess und Drehbuch stellt sich – nach Paul Rebillot eben auch für das eigene Leben – in seinen 12 Stufen folgendermaßen dar:

1. Stufe: Die gewohnte Welt
Das ist die Ausgangssituation im Film und im realen Leben. Hier findet der Alltag, das Gewohnte statt. Irgendwann ist in der Routine ein klitzekleiner Zweifel: Irgendetwas fehlt. Und was wäre, wenn ich diesem Gefühl nachgäbe?

2. Stufe: Der Ruf um Abenteuer
Der Held erkennt, dass er aus seiner Komfortzone heraus muss. Dabei kann es ein winzig kleiner Anstoss sein oder die wiederholte Aufforderung, etwas zu ändern.

3. Stufe: Die Weigerung
Der Erkenntnis, etwas ändern zu wollen, folgt die Angst vor der eigenen Courage oder auch ein äußerer Widerstand oder ein Denkmuster wie "Bewährtes soll man nicht verändern". Bei Tolkiens Herr der Ringe braucht es mehrere Anläufe bis sich Bilbo zur Abenteuerreise überreden lässt. Oder auch in der Bibel findet sich dieser Aspekt der Weigerung vielfach, so bei Moses, der sich zunächst dem Ruf Gottes, das Volk Israel zu führen, verschließt.

4. Stufe: Der Mentor
Der Mentor (oder Helfer) tritt in die Lebenswelt des Helden und gibt den entscheidenden Impuls, sich auf die Reise zu begeben, die viel Unbekanntes und Unerwartetes bereit halten wird. Der Mentor kennt die alte und die neue Welt und handelt in der Regel selbstlos.

5. Stufe: Das Überschreiten der ersten Schwelle
Der Held hat sich auf den Weg begeben und die alte Welt hinter sich gelassen. In Filmen wird hierfür ein symbolkräftiges Bild gewählt: der Polizist, der seine Uniform ablegt oder die Polizeimarke zurückgibt, bei Alice im Wunderland fällt Alice in den Kaninchenbau, der ihr eine neue Welt eröffnet. Die erste Schwelle ist gleichzeitig der Punkt, an dem es kein einfaches Zurück in die alte Welt mehr gibt.

6. Stufe: Die Bewährungsproben
Die neue Welt bedeutet neue Herausforderungen, die es für den Helden zu bewältigen gibt. Es gibt Rückschläge, es zeigt sich, wer Freund und wer Feind ist.

7. Stufe: Die tiefste Höhle
Der Held steht vor schier unlösbaren Aufgaben. Er wird mit seinem ärgsten Feind, seinen größten Ängsten konfrontiert. Und es zeigt sich, dass die Höhle, die der Held zunächst zu betreten vermeidet, den eigentlichen Schatz beinhaltet.

8. Stufe: Der Wendepunkt
Hier bricht der Konflikt in seiner gesamten Härte auf. Es ist gut, wenn der Held sich vorher seiner Helfer versichert hat, die ihn bei der Umsetzung seines Vorhabens unterstützen. Denn nun steht alles auf dem Spiel.

9. Stufe: Die Belohnung
Nach gewonnenem Kampf darf gejubelt und gefeiert werden. Es ist geschafft, das Abenteuer ist bestanden, ein neues Leben beginnt. Der Held hat neues Selbstbewusstsein gewonnen.

10. Stufe: Der Rückweg
Mit neuen Erkenntnissen und neuem Selbstbewusstsein gilt es nun, in die gewohnte Welt zurückzukehren oder das neue Leben zu gestalten. Ein letztes Mal tauchen Hindernisse auf.

11. Stufe: Die Erneuerung und Verwandlung
Der Held festigt seine Erkenntnisse. Es findet eine symbolische Reinigung statt oder ein endgültiges Ablegen alter Symbole.

12. Stufe: Die Rückkehr
Der Held kehrt in die gewohnte Umgebung mit neuen Erkenntnissen. Alles auf der Reise Gelernte ist im neuen Leben integriert, Altes bekommt einen neuen Sinn.

Paul Rebillots Ansatz der Heldenreise ist gestalttherapeutisch orientiert und versucht innerhalb von wenigen Tagen über das 12-stufige Muster mit gezielten Fragen und Übungen, Gefühle und Gedanken der Teilnehmenden zu aktivieren. Zentrales Moment der Heldenreise ist die Konfrontation der „eigenen Heldenseite“ mit der „eigenen Dämonenseite“ und schließlich der Gewinn einer Belohnung, indem die eigenen Kräfte geklärt werden. Am Ende kehren die Teilnehmenden in ihre reale Welt zurück und sie können die neuen Erfahrungen in ihr Leben integrieren.

Im Film Pretty Woman, der ziemlich genau dem Heldenreisen-Muster folgt, wird die Handlung eingerahmt von einer Straßenszene mit einem Passanten, der zum Teil monologisiert und zum Teil die anderen Passanten anspricht: „Willkommen in Hollywood! Was ist Dein Traum? Jeder kommt hierher, das ist Hollywood, Land der Träume. Einige Träume werden wahr, andere nicht; aber träum weiter – das ist Hollywood. Es ist immer Zeit zu träumen, also träum weiter.“

Man darf hier getrost „Hollywood“ durch „Leben“ ersetzen und hat die Quintessenz von Paul Rebillots und Joseph Campbells Heldenreise erfasst.

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