Warum Rhythmen überlebenswichtig sind

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Rhythmus ist überall. Diese Tatsache lässt sich vom Großen bis zum Kleinen durchdeklinieren. Und er ist mehr als eine Laune oder ein zufälliger Ausdruck der Natur. Stimmt der organ-eigene Rhythmus nicht oder gerät er in zu große Konflikte mit den äußeren Rhythmen, kann im Extremfall das Körpersystem kollabieren. Aber auch kleine Abweichungen können dauerhaft schaden.

Der Musikjournalist Joachim Ernst Behrendt hat es Anfang der 1980er Jahren in einem mehrteiligen, wegweisenden Radio-Feature hörbar gemacht: Die Welt ist Klang. Vom Planeten bis zur Zelle – alles schwingt, alles ist Rhythmus. Lange Zeit waren es vor allem die fernöstlichen Medizinvorstellungen, die den Rhythmus als zentralen Hebel für die Gesunderhaltung verstanden haben. So beschreibt beispielsweise die Organuhr aus der chinesischen Fünf Elemente-Lehre, welche Organe zu welcher Uhrzeit ihre Hauptaktivität haben, und wie eine Ausrichtung unserer Lebensgewohnheiten an diesem Rhythmus gesundheitsfördernd sein soll.

Rhythmus und Gesundheit

Die sinnfälligste Bedeutung des Rhythmus auf unser Leben erkennen wir an Herzrhythmusstörungen. Werden sie chronisch und bleiben sie unbehandelt, kann der außer Takt geratene Organismus versagen. Kurzfristig kann dann ein Defibrillator helfen, den Herzrhythmus wiederherzustellen, langfristig hilft manchmal nur ein künstlicher Taktgeber. Dieser Umstand weist auch darauf hin, dass unser Körper offenbar auf äußere Rhythmen reagieren kann. Er steht also immer in Kontakt mit anderen rhythmischen Phänomenen.

Der Rhythmus, wo jeder mit muss

Die Wechselbeziehung zwischen Innen und Außen zeigt sich einerseits daran, dass unser Biorhythmus in etwa mit dem äußeren 24h-Tag-Nacht-Rhythmus korrespondiert. Die Feinsynchronisation und -abstimmung damit übernimmt unser Körpersystem. Auch der weibliche Zyklus vermag im Rhythmus des Mondes zu schwingen.

Die Milz wiederum bildet in gewisser Weise einen vermittelnden Zwischenrhythmus von unrhythmischen Essensrhythmen und Gesundheit initiierendem Atemrhythmus durch ihre Fähigkeit, Blut zu speichern. Wir haben umgekehrt die Tendenz und das Bedürfnis, uns mit äußeren Rhythmen synchronisieren zu wollen, wie zum Beispiel auf Musik und gestaltete Sprache zu reagieren: Wir wippen im Takt der Musik oder empfinden den rhythmischen Fluss eines Textes als passend oder unpassend. Andererseits zeigt dieses, dass Sprache und Musik aus dem Körpererleben, aus der menschlichen Physiologie entstanden sind.

Warum Polyrhythmen Leben retten

Auch wenn wir bei Musik im Takt mitwippen oder den Impuls beim Tanzen aufnehmen, nicht unser gesamter Körper ist mit einem einzigen Takt synchronisiert. Geschähe dieses, würde das Gleiche passieren, wie bei marschierenden Soldaten, die im Gleichschritt eine Brücke überqueren. Das System, die Brücke, würde kollabieren. Und so befiehlt auch der Zugführer seinen Soldaten „ohne Tritt, marsch“, so dass ein viel-rhythmisches Gehen entsteht. Auch unser Körper kennt verschiedene Rhythmen, die – obwohl jeweils verschieden – ein polyrhythmisches Ganzes bilden und harmonisch aufeinander abgestimmt sind. Gewisse Toleranzen sind, wie in der Musik, erlaubt und sogar erwünscht als Ausdruck einer individuellen Lebendigkeit. Doch als komplexes System braucht auch der menschliche Organismus einen Dirigenten beziehungsweise eine Art Schwarmintelligenz, welche das Ganze im Blick hat, beziehungsweise sich im Ganzen mitschwingend zugehörig fühlt und für den Gesamtsound mitverantwortlich ist.

Wie der Rhythmus in die Medizin kam

Komplementärmediziner aus Homöopathie (Ende des 18. Jahrhunderts) und anthroposophischer Medizin (Anfang des 20. Jahrhunderts) sind vielleicht die ersten gewesen, die die umfängliche Bedeutung des Rhythmus auf die Gesundheit herausgestellt haben. In der Homöopathie wird großer Wert auf Rhythmus und Rhythmisieren gelegt. Das bezieht sich sowohl auf das therapeutische Vorgehen als auch auf die Herstellung und Verordnung homöopathischer Heilmittel. Die anthroposophische Medizin sieht in einem funktionellen dreigegliederten Körpersystem Atmung und das Herz-Kreislaufsystem als das zentrale System an, das die anderen beiden Systeme ausbalanciert und dabei als rhythmisches System bezeichnet wird.

1977 hatten US-amerikanische Forscher (u.a. Thomas Boyce) bei der Untersuchung von Erkrankungen bei Schulkindern herausgefunden, dass 2/3 aller Krankheiten Atemwegserkrankungen sind. Bei allen Erkrankten zeigten sich Keime, doch bei 1/3 der Untersuchten entwickelten sich keine Symptome. Die Forscher stellten fest, dass Kinder dort signifikant mehr Resistenzen entwickelten, wo stabile familiäre Routinen in Form von regelmäßigen Alltagsrhythmen existierten. Ebenso ist ein Teil des Erfolges eines Kuraufenthaltes auf dessen gut rhythmisierten Tagesablauf zurückzuführen, wie Studien zeigen.

Wie bedeutsam der Atem für das Leben ist, fand Ilse Middendorf bei ihrer Erforschung des „erfahrbaren Atems“ heraus: „Atem ist Urgund und Rhythmus des Lebens.“

Chronobiologische und soziologische Untersuchungen der letzten 70 Jahre haben die Zusammenhänge bestätigen können. So fanden Forscher, zum Beispiel Heinrich Kremer 2006, heraus, dass der Rhythmusverlust der zellulären Atmungskette im menschlichen Zellstoffwechsel die Hauptursache für die Krebsentstehung ist.

Rhythmen und Rituale gegen Stress

Dauerhafter Stress kann Ursache für Erkrankungen sein, unter anderem, weil er die natürlichen Rhythmen durcheinander bringt. Offensichtliche Phänomene sind dabei verschobene Essens- und Schlafzeiten, mangelhafte Wechsel zwischen An- und Entspannung und fehlende Pausen.

So wie es „rhythmische“ Erkrankungen gibt, so heilsam sind eben auch Rhythmen. Ulrike Beer, die ihre Doppelqualifikation aus Musikpädagogik und körpertherapeutischen Ansätzen in ihren Seminaren nutzt, sagt: „Nehmen Sie Ihre inneren Rhythmen wahr und eignen Sie sich dazu auch entsprechendes Wissen an. Nutzen Sie die äußeren Rhythmen zu Ihrer Unterstützung. Und ebenso: Nehmen Sie die äußeren Rhythmen der Sie umgebenden äußeren Natur und Gesellschaft wahr und synchronisieren Sie sich mit Ihnen nach Möglichkeit nur dort, wo sie ihrer Gesundheit und ihrem Wohlergehen dienlich sind. Erhalten Sie sich dabei ein gewisses Maß an Flexibilität, um mit entsprechenden Abweichungen gut umgehen zu können. Ein Zeichen von Gesundheit ist sowohl passende eigene Rhythmen aufbauen und gestalten zu können als auch mit deren Abweichungen umzugehen und wieder in den Rhythmus passend zum Eigenen einzufädeln.“

Für den Stressabbau hält sie drei Faktoren für wesentlich:

  • Identifizieren Sie Ihre Stressoren und prüfen Sie, ob ein Abbau möglich ist.
  • Überprüfen Sie Ihre Haltungen und Einstellungen zu Situationen, die Sie als stressig wahrnehmen.
  • Stabilisieren Sie ihr System durch Rhythmisierung von Tätigkeiten, die dazu geeignet sind, Gesundmachendes in Gang zu setzen und Symptome von Stress zu mildern. Das könnte z.B. sein, in gewisser Regelmäßigkeit Freunde treffen, regelmäßige Spaziergänge in der Natur, regelmäßiges Yogatraining, regelmäßiges Musizieren oder Singen in angenehmer Gemeinschaft, regelmäßige Essens- und Schlafenszeiten gemäß den Rhythmen der äußeren Natur.

Gerade Rituale galten lange Zeit als verpönt, weil sie als hohl oder sinnlos galten. Nun wissen wir aber, dass Rituale Teil eines heilsamen rhythmischen Systems sind. Natürlich kommt es dabei auf die persönliche Ausgestaltung an. Denn daran erinnert Ulrike Beer: „Wir sind bis zu einem gewissen Grad Komponisten unseres eigenen Lebens. Lernen Sie Ihre eigene innere Natur kennen und komponieren Sie sich mit deren Motiven und Anwendungen im Zusammenspiel mit anderen durch ihr Leben.“

Eine Hymne für den Rhythmus

Dass der Rhythmus nicht nur überlebenswichtig ist, sondern Leben verändern kann, wird in dem Film „Rhythm is it“ über ein Tanz- und Musikprojekt von Simon Rattle und Royston Maldoom deutlich. Mit den Berliner Symphonikern und 250 Schülern aus sogenannten Problemschulen als alleinigen Tänzern wird Strawinskys Ballett „Das Frühlingsopfer“ aufgeführt. Bei einer der ersten Proben sagt Royston Maldooms gegenüber den Schülern: „Glaubt ja nicht, dass es hier nur um Tanz geht. Ein Tanzunterricht kann Euer Leben ändern.“

Genau das dokumentiert der Film: aus unsicheren, zweifelnden, störrischen und oft aufgegebenen Teenagern werden begeisterte und begeisternde Tänzer, die allein mit diesem Projekt für’s Leben gelernt haben. Im bewegten Rhythmus beginnen sie, sich zu spüren, auf unterschiedliche Weise mit sich in Kontakt zu kommen und sich letztlich neu zu erleben. Ein neu ausgebildetes Selbstbewusstsein kann so aus der erlebten Tiefe an die sicht- und spürbare Oberfläche der jungen Erwachsenen kommen: Rhythm is it!

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