Vom Erinnern an den Ersten Weltkrieg

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1. Juli 1916 an der Somme, Frankreich: die britischen Alliierten und Franzosen nehmen die Schützengräben der Deutschen unter heftigsten Beschuss und vermuten, dass sie den Deutschen eine vernichtende Niederlage beschert haben. Eine Fehleinschätzung mit fatalen Folgen: Beim Vorrücken auf die deutschen Stellungen sterben allein in der ersten halben Stunde 8.000 britische Soldaten im Kugelhagel deutscher Maschinengewehre. Am Ende des Tages sind es 22.000 Tote. Insgesamt lassen in diesem Blutsommer 1,3 Millionen Soldaten ihr Leben – und entscheiden am Ende rein gar nichts am Frontverlauf.

Hundert Jahre später erinnern ebenso viele Menschen, vorwiegend aus Großbritannien, an dieses einschneidende Ereignis, das für die Sinnlosigkeit des Kriegs und schwere Spätfolgen für Mensch und Landschaft steht. Dabei hat sich die kollektive Erinnerungskultur an das Ereignis über viele Jahrzehnte hinweg verändert.

Wo der Krieg zum Weltkrieg wurde

Die viereinhalb Monate dauernde Materialschlacht ist vergleichbar mit der in Deutschland und Frankreich bekannteren „Hölle“ von Verdun. Geschichtlich einschneidender ist jedoch die Schlacht an der Somme. Denn hier wird der Krieg zu einem Weltkrieg: 24 Nationen sind am Ende in die Kämpfe verwickelt. Seit 1914 durchziehen Schützengräben das Departement in einem deutsch-französischen Stellungskampf.

Ab Juni 1915 lösen britische Truppen die französische Armee teilweise ab, um diese zu entlasten. Das ursprünglich kleine Berufsheer ist mit zahlreichen Freiwilligen aus dem gesamten britischen Weltreich rasch angewachsen. Die von den Alliierten monatelang vorbereitete Offensive in einem 40 Kilometer langen Frontabschnitt bei der Somme verschiebt sich bis zum Ende des Jahres um maximal 12 Kilometer. Die Verluste aller Heere aber betragen mehr als eine Million Mann. Anderthalb Jahre später wird wieder um die gleichen Gräben gekämpft.

Folgen für die Landschaft und ihre Bewohner

Am Ende des Kriegs ist die Somme wie 12 andere Departements Frankreichs bleibend geprägt. Direkt am Geschehen der Kämpfe ist die Natur zerstört, wächst kein Grashalm mehr, die Erde ist durchwühlt und ähnelt einer Kraterlandschaft. Neben den Blindgängern befinden sich Tonnen Kriegsmüll im Boden. Bevor mit dem Ackerbau begonnen werden kann, müssen Gefahren beseitigt und die Krater zugeschüttet werden.

Die zurückkehrenden Einwohner hausen in Kellern oder Holzbaracken, erst ab 1923 beginnt der Wiederaufbau ihrer Häuser. Die Architekten greifen auf Materialien zurück, die eine rasche Konstruktion ermöglichen: Ziegelstein und Beton. Neben regional typischen Motiven verzieren Elemente des Art Deco-Stils die Häuserfassaden.

In den zerstörten Städten nutzt man die Gelegenheit Sichtachsen, breitere Straßen und öffentliche Gebäude nach modernen hygienischen Vorstellungen zu errichten. Historische Gebäude werden teilweise nach alten Plänen und Darstellungen wieder aufgebaut. Straßen und Bahnlinien werden repariert, Wälder an den ursprünglichen Stellen aufgeforstet. Natur und Mensch nehmen das Leben am ehemaligen Ort der Kämpfe wieder auf.

Und doch bleiben Spuren sichtbar: ein betonierter Unterstand am Feldrand, in der Streuobstwiese ein paar kreisrunde Vertiefungen, die nicht natürlichen Ursprungs sein können. Einige Bewohner haben ihre Häuser voller Fundstücke des Ersten Weltkriegs, die sie von Kindheit an während der Feldarbeit aufgesammelt haben. Und noch etwas ist hinzugekommen: Eine unübersehbare Anzahl Friedhöfe.

Orte des Gedenkens

Um das individuelle Bedürfnis der Trauerarbeit nach einem Massentod zu befriedigen, begehen die kriegsteilnehmenden Länder unterschiedliche Wege. Die französische und Weimarer Republik befassen sich mit der Aufgabe einer dauerhaften Grabanlage unter finanziellen Engpässen. Individuelle Grabrückführungen auf Kosten der Familien sind erlaubt, die meisten Gräber werden aber auf regionalen Sammelfriedhöfen in der Nähe der Front zusammengeführt.

Das Commonwealth hat bereits im Krieg eine Kommission gegründet, die Entstehung und Unterhalt der Friedhöfe an den Orten des Geschehens und möglichst ohne Umbettung organisiert. Hinzu kommt, dass die modernen Waffen die Körper zehntausender Soldaten zur Unkenntnis verstümmelt oder vollständig zerstört haben, so dass die Familien kein Grab aufsuchen können.

Ersatz bieten Denkmäler in den Heimatorten der gefallenen Soldaten, sowie der aufkommende Kult des unbekannten Soldaten, an dessen Grab stellvertretend für alle nicht identifizierten Soldaten Gedenkzeremonien stattfinden. Beispielhaft dafür ist das Grab am Pariser Triumphbogen. Die Länder des britischen Weltreichs gehen noch einen Schritt weiter.

Ab 1921 errichten sie an den ehemaligen Schlachtfeldern Denkmäler, die an bestimmte Einheiten oder an die Soldaten erinnern, die keine bekannte Grabstätte haben. Das weltweit größte Denkmal für den Ersten Weltkrieg steht in Thiepval an der Somme. Seit seiner Einweihung im Jahr 1932 finden dort regelmäßig Gedenkzeremonien statt, die wichtigste am ersten Juli.

Von der Pilgerfahrt zum Schlachtfeldtourismus

Neben dem Besuch der Gedenkstätte entwickelt sich der Wunsch die Orte des Geschehens zu besuchen. Es geht um das Auffinden des authentischen Orts, an dem der Soldat gefallen ist oder an dem er gekämpft hat, um den Zusammenhalt der Kriegsveteranen, um historisches Wissen, um Neugierde und Sensationslust.

Bereits in der Zwischenkriegszeit wirbt die Stadt Amiens mit Plakaten für einen Aufenthalt an der Somme und den Besuch der ehemaligen Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs. Vom Gewicht des Zweiten Weltkriegs zeitweise überdeckt, kommen britische Besucher seit den 1970er Jahren verstärkt zurück, profitieren von der Nähe zu ihrem Heimatland für einen Wochenendaufenthalt, interessieren sich für einen Krieg, der mit dem Altern der Veteranen zu Geschichte wird.

In diesem Zeitraum entstehen auch neue Museen, die sich verstärkt mit den kulturellen Hintergründen des Ersten Weltkriegs auseinander setzen. Seit etwa zwanzig Jahren kommen Touristen aus Ländern wie Australien, Kanada und Neuseeland hinzu, sinkende Flugkosten machen einen Aufenthalt erschwinglicher. Im nationalen Selbstverständnis ist der Weltkrieg auch die Geburtsstunde ihrer Unabhängigkeit, zählt also zu ihrem Gründungsmythos.

Deutsche Besucher beschränken sich bislang meist auf den Besuch Verduns. Die Schlacht an der Somme ist trotz der zahlreichen Publikationen der letzten Jahre nicht weiter ins Blickfeld gerückt. Dabei stellt sie einen neuen, eigenen Aspekt der internationalen Erinnerungskultur dar.

Unsere Veranstaltung zum Thema

Zum Thema 2. Weltkrieg bietet das LIW in der Normandie das Seminar „Die Landung der Alliierten in der Normandie – Wie objektiv ist die kollektive Erinnerung?“ an.