Wald im Wandel - Klimaplastische Dauerwälder im Westallgäu

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In Deutschland ist die Jahresdurchschnittstemperatur seit 1881 um 1,5 °C angestiegen. Unsere naturfernen deutschen Forste reagieren heftig, teilweise katastrophal auf diese Entwicklung. Doch wie können wir gegensteuern, was sind eigentlich „klimaplastische Wälder“ und wie sehen sie aus?

Wälder sind weit mehr als die Summe ihrer darin wachsenden Bäume. Sie stellen hochkomplexe, vernetzte und interaktive Ökosysteme dar, die sich in ständiger Selbst-Evaluation, Anpassung und Wandlung befinden. Wälder entwickeln sich haushaltend als komplexes Gefüge aus Mikroorganismen, Pilzen, Pflanzen und Tieren ergebnisoffen. Umwelteinflüsse und Bewirtschaftungseingriffe können daher vielfältigste Reaktionen und Rückkopplungseffekte in ihnen auslösen.

Doch vor allem naturnah gemischte, nur mäßig genutzte, alte, dauerhaft erhalten gebliebene Wälder, aufgebaut mit heimischen Baumarten sind anpassungsfähig und besitzen eine hohe ökologische Plastizität. Extensiv bewirtschaftete Waldformen – sogenannte Vielgenerationen-, Plenter- oder Dauerwälder – verfügen somit auch über das immer wichtiger werdende Potenzial der sogenannten „Klimaplastizität“.

Unter Klimaplastizität wird die Fähigkeit eines biologisch-ökologischen Systems zu einer dauerhaften Anpassung seiner Strukturen an einen Klimawandel verstanden. Im Gegensatz zum Konzept der Resilienz wird mit Plastizität die dauerhafte Anpassung des Ökosystems an sich verändernde Umweltbedingungen bezeichnet.

Ein gutes Beispiel: Die Westallgäuer Dauerwälder

Die enorme Vielfalt klimaplastischer Waldbereiche lässt sich beispielhaft und eindrucksvoll in den Westallgäuer Dauerwäldern am Pfänderrücken erleben. Auf gut 900 m Meereshöhe, über dem Bodensee haben sich in der abgeschiedenen, hügeligen Gebirgslandschaft ursprüngliche, jahrhundertealte Bergmischwälder erhalten.

Heimische Baumarten wie Weißtanne, Buche und Fichte, kleinräumig gemischt mit Bergahorn, Esche, Bergulme und Sommerlinde sind hier prägend. Durch hohe Niederschläge und die gute Nährstoffversorgung der Böden entwickeln sich dichte, wuchskräftige Wälder mit mächtigen Baumexemplaren.

Viele dieser heute weit über 40 m hohen heimischen Weißtannen standen schon zu Zeiten der französischen Revolution vor 230 Jahren hier an ihrem Platz. Sie erlebten und überstanden vielfältige Wetterextreme und Witterungskapriolen. Extreme Spätfröste im Mai, Hitzesommer wie in den Jahren 1947, 2003 oder 2018, das „Jahr ohne Sommer“ (1816) mit Schneefall im Juli, schwere Winterorkane, extreme Gewitterstürme mit Hagelschlag und vieles mehr.

All die überstandenen Extreme sind in das Klimagedächtnis dieses Waldes eingeprägt. Sie sorgten für Auslese und Anpassung und tragen bis heute zu seiner hochentwickelten Widerstandskraft und Robustheit bei. So sind diese alten Wälder breit ausgestattete Klimaarchive und besitzen wertvolle Fähigkeiten und variable Genpools für den weiteren Temperaturanstieg in Zeiten des Klimawandels.

Waldökosysteme - Wunder der Natur, bereits früh vom Menschen beeinflusst

Die Wälder in Deutschland haben sich in ihren unterschiedlichsten Baumartenzusammensetzungen seit dem Ende der letzten Eiszeit vor ca. 11.000 Jahren über Jahrtausende dynamisch entwickelt. Der dabei vollzogene Ökosystemwandel wurde zunehmend durch menschliche Landnutzung beeinflusst. Menschen schlugen Holz für ihre Siedlungstätigkeit und nutzten Flächen zeitweise land- und forstwirtschaftlich. Fielen diese dann brach, konnten bestimmte Baumarten diese Situation verstärkt für ihre Ausbreitung nutzen. So geht man davon aus, dass die Buche, die sich erst relativ spät in Deutschland ausbreitete und heute als eine der Hauptbaumarten unserer potenziellen natürlichen Waldvegetation gilt, massiv von diesen menschlichen Nutzungsformen profitieren konnte.

Buchen – tragende Säulen im klimaplastischen Wald

Die Buche ist auch eine der ökologisch „tragenden Säulen“ in den klimaplastischen Westallgäuer Dauerwäldern. Jeder Besucher in ihnen spürt ab dem späten Herbst die dicke, raschelnde Laubschicht unter seinen Füßen die den Waldboden unter den alten Buchen bedeckt, denn eine 150jährige Buche entwickelt etwa 800.000 Blätter in einer Vegetationszeit. Damit nimmt sie dann bis zum Herbst nicht nur rund 24 kg CO2 pro Tag auf, sie verdunstet auch bis zu 500 Liter Wasser täglich. Ihre Blattmasse liefert bei der Zersetzung milden, basenreichen Humus und bereitet damit ein ideales Keimbett für andere Baumarten. Buchen wirken somit generell bodenverbessernd. Sie aktivieren das Bodenleben wie kaum eine andere heimische Baumart und nicht zuletzt deshalb wird die Buche als „Mutter des Waldes“ bezeichnet.

Fremdländische Baumarten - Hochrisikokapital statt Allheilmittel für unsere künftigen Wälder

Grundsätzlich ist der Wandel von Waldökosystemen ein ergebnisoffener Prozess, der nicht statisch an einem bestimmten Punkt (Klimax) endet. Vielmehr setzt er sich stetig fort und wird sich in Zeiten der Erderhitzung verstärkt dynamisch entwickeln. Die Lebensvielfalt (Biodiversität) spielt eine erhebliche Rolle für die Arbeitsfähigkeit und das Zusammenspiel der einzelnen Bestandteile in dem ökologischen Gefüge komplexer Waldökosysteme. Dabei kommt es nicht so sehr auf die Anzahl der Arten an, die an einem Ort vorkommen. Entscheidend ist ihr konstruktives Interagieren untereinander im ökologischen Gesamtgefüge.

Eingeschleppte oder eingewanderte Tier- und Pflanzenarten (Neobionta) zu denen auch fremdländische Baumarten zählen, können die Artenzahl durchaus erhöhen. Diese sind dann aber nicht in das bisher selbstregulierende System integriert. Als negative Konsequenz daraus können diese dann die bisher heimischen und funktional notwendigen Arten im Gefüge verdrängen. Oder als neuartige Krankheitserreger oder Räuber, zu denen keine Gegenspieler existieren, substanzielle Ökosystem-Störungen hervorrufen. Der immer lauter werdende Ruf nach verstärktem Einsatz von fremdländischen Baumarten, ob Libanonzeder, Douglasie, Riesenmammutbaum o.a. als Allheilmittel für die Zukunftssicherung unsere Wälder in Zeiten der Erderhitzung, erscheint bei wissenschaftlicher Betrachtung eher als waldökologisches „russisches Roulette“. Er birgt für kommende Generationen eine mehr als unsichere, unseriöse Hypothek in der künftigen Waldentwicklung.

Kooperation und Kommunikation im naturnahen Wald

Naturnahe Dauerwälder stellen reife, komplexe Ökosysteme mit einer hohen inneren Bindungskraft dar. Neben Konkurrenz und der ausgleichenden Regulierung durch vielfältige Räuber-Beute-Beziehungen sind vor allem auch kooperative und symbiontische Beziehungsgefüge sehr wichtig. Diese engen „Work-Together-Strategien“ wirken sich günstig auf die Leistungsfähigkeit und Widerstandskraft von Wäldern aus. Als klassisches Beispiel hierfür gilt die enge Symbiose zwischen Pilzen und Bäumen, bei der es durch die sogenannte Mykorrhiza-Bildung zu einem weit verzweigten unterirdischen Netzwerk kommt, dem sogenannten „Wood-Wide-Web“. Mit dessen Hilfe tauschen Pilze mit Bäumen u.a. Wasser und Nährstoffe gegen vom Baum durch Photosynthese produzierten Traubenzucker. Ohne diese enge Mykorrhiza-Symbiose wäre der Großteil unserer heimischen Baumarten nicht überlebensfähig.

Wilde alte Wälder sind Klimaschutzwälder und formschöne, faszinierende Organismen

In sich selbst überlassenen, reifen Waldökosystemen, zum Beispiel alten, gemäßigten Laubmischwäldern, nimmt durch die stetige Anreicherung von Humusstoffen und totem Holz, die Nährstoff-, Wasser- und Kohlenstoffspeicherfähigkeit beständig zu. In der Vegetationszeit bildet sich ein eigenes, äußerst positives, auch kühlendes Mikro-Waldinnenklima aus. So zeigt eine breit angelegte Studie, dass alte, reife Wälder nicht nur hocheffiziente Kohlenstoff-Speicher und CO2-Senken darstellen. Bei steigendem Reichtum an Biomasse sinkt zudem ihre Anfälligkeit gegenüber Einflüssen des Klimawandels signifikant.

Der Kohlenstoffgesamtgehalt von Waldökosystemen steigt mit dem Waldalter, im besonderen Maße jenseits von 130 Jahren und in den ältesten untersuchten Wäldern, zeigen sich die höchsten Kohlenstoffmengen. Eindrucksvoll lassen sich diese Zusammenhänge auch in dem 2018 geschaffenen Naturwaldreservat Rohrachschlucht bei Scheidegg im Westallgäu nachvollziehen. Dieser abgeschiedene, artenreiche Schluchtwald ist nur über Fußpfade erreichbar und entwickelt sich „wild“, schon seit über 70 Jahren ohne Nutzung. Er bietet eine faszinierende Waldlaboratmosphäre um Zusammenhänge und Prozesse in alten, wilden Wäldern zu entdecken und zu verstehen. Verschlungen gewachsene Baumformen, eine unglaubliche Vielfalt von unterschiedlichsten Pilzen, an Bäumen, auf Moderholz sitzend oder große kreisförmige „Hexenringe“ am Waldboden formend. Dichte tiefgrüne Moospolster an Baumstämmen und leuchtende Flechten auf großen Rindenschuppen alter Bäume sind vielfältigste Details eines hochkomplexen Ökosystems.

Biotopholz erhöht die Widerstandskraft von Wäldern

Konsequente Biomasseanreicherung, unter anderem durch Belassen von Spechthöhlen, beziehungsweise Blitzbäumen, totem stehendem und liegendem Holz im Waldbestand, erhöht auch in Wirtschaftswäldern deren Fähigkeit negativen Störeinflüssen zu trotzen deutlich. Der im Wald verbleibende Kohlenstoff leistet in hohem Maße einen Beitrag zur Walderhaltung und löst vielfältige, positive Rückkopplungen aus. Biomassereiche Wälder verfügen über eine höhere Bodenfeuchte, verbesserte Humusbildung und Nährstoffverfügbarkeit was sich positiv auf das Baumwachstum und die bodenbezogene Mikroorganismenentwicklung auswirkt, die ihrerseits wiederum verstärkt zur Kohlenstofffixierung im Waldboden beitragen. Biotopholz trägt darüber hinaus zu einem, um ein vielfach, engmaschiger geknüpften „Netz des Lebens“ bei und erhöht somit die Stabilität und Funktionsfähigkeit von Wäldern erheblich.

Die Maxime „Nichts ist so lebendig wie totes Holz“ beschreibt die ökologische Wertigkeit dieser natürlichen Ressource anschaulich. An einem toten, starken Altbuchenstamm können in den vielen Phasen seiner Zersetzung vom Bruch- über Morschholz zu Modersubstraten über 3.000 Tier- und Pflanzenarten leben.

Die Kühlfunktion von Wäldern wird im Klimawandel wichtiger als ihre reine Holzproduktion

Die voranschreitende Erderhitzung macht einen substanziellen Paradigmenwechsel bei der Bewertung unserer Wälder im Hinblick auf die Wertigkeit ihrer Waldfunktionen nötig. Dazu gehören die dem Menschen durch den Wald zur Verfügung gestellten „Wohlfahrtswirkungen“ und Ökosystemdienstleistungen. Die derzeit noch stark holznutzungszentrierte Funktionszuweisung der Wälder Deutschlands, wird sich massiv hin zu verstärkt klimakühlend wirkenden, wasserspeichernden und die Grundwasserneubildung unterstützenden Waldfunktionsmechanismen verändern müssen.

Die beiden Hitzesommer 2018 und 2019 verdeutlichen diese Notwendigkeit dringlichst. So ergaben wissenschaftliche Untersuchungen 2018 im Bereich des Hambacher Forst und seiner Umgebung im Kölner Becken Unterschiede in der Oberflächendurchschnittstemperatur (zwischen Offenland und dem kühlsten Messpunkt im Wald) von bis zu 22 °C Differenz.

Wissenschaftlichen Prognosen zufolge könnten künftig gerade sommerliche Extrem-Hitzeperioden, die höchsten klimabedingten Todesopferraten in Deutschland verursachen. Somit wird vor allem im Umfeld großer Ballungszentren und stadtnaher Gebiete die natürliche Kühlungsfunktion und das wasserspeichernde Potenzial von klimaplastischen Dauerwäldern immer wichtiger werden. Solche Waldgebiete schaffen sich nicht nur in sich ihr eigenes, stabilitätsförderndes, kühlendes Waldinnenklima, sie kühlen auch ganze Landschaftsräume in substanzieller Weise. Großflächig forcierter ökologischer Waldumbau, hin zu diesen klimaplastischen Waldformen, kann somit künftig aktiv Menschenleben retten.

Wald neu denken: Leitsätze naturnaher Waldbewirtschaftung für mehr klimaplastische Wälder

„Wer die Natur beherrschen will, muss ihr gehorchen.“ Dieses Zitat von Francis Bacon ist für naturnah wirtschaftende Förstern das zentrale Leitmotiv im Umgang mit Wald und gilt heute, neben der Ausweisung von zusätzlichen Waldwildnis-Großschutzgebieten (Wald-Nationalparke) und Naturwaldreservaten, als einer der ökologischen Meilensteine hin zu klimaplastischen, überlebensfähigen Wäldern in Zeiten der Erderhitzung.

Für den auch als ökologische Waldwirtschaft bezeichneten Ansatz bedeutet dies zuallererst den jeweiligen Waldverhältnissen vor Ort genau „auf den Grund gehen“. Denn jeder Wald ist anders und so entscheidet seine Vorgeschichte in der Bewirtschaftung, die Verhältnisse von Boden, Lage, Kleinklima und nicht zuletzt die jagdliche Situation vor Ort über sein aktuelles „individuelles Wald-Befinden“. Von dieser Analyse ausgehend muss ein detailliertes „Wald-Behandlungsprogramm“ entwickelt werden. Es schöpft für die jeweilige Situation das vorhandene Potenzial der Naturkräfte – unter Prüfung nachfolgender Fragen – umfassend aus:

  • Welcher Wald würde hier, auch künftig von Natur aus, wachsen?
  • Wie kann dieser Wald an dem Ort wieder so naturnah wie möglich etabliert werden?
  • Welche seltenen heimischen Samenbäume sind vorhanden und helfen mit bei der natürlichen Verjüngung des Waldes
  • Welche heimischen, verjüngungsfähigen Baumarten können standortgerecht etabliert werden?
  • Welche standortheimischen Baumarten für die künftige Wald-Klimaplastizität fehlen und müssen eventuell gepflanzt werden?
  • Welche möglichen Vorwaldstrukturen für mehr Naturnähe auf gestörten Waldstandorten gilt es zu entwickeln?

Neben diesen Fragen gilt es einige wichtige Regeln zu beachten, um die Naturkräfte im Wald in die richtigen Bahnen zu lenken:

  • natürliche Dynamiken im Wald zulassen und nutzen (z.B. Naturverjüngung der Baumarten)
  • Wälder reifen und alt werden lassen, wenig eingreifen (Eingriffsminimierung)
  • geregelte Waldpflegeeingriffe nur in einzelstammweiser Nutzung im Winter
  • bodenschonende Holzbringung im Waldbestand in erster Priorität mit Pferderückung
  • seltene Baumarten erhalten
  • Sonderbiotope erhalten (Quellbereiche, Trockenstandorte, Schluchtwälder etc.)
  • Baum-Methusaleme und alte Samenbäume erhalten
  • Biotopholz entwickeln (den Waldbestand mit min. 10 % des Holzvorrats flächig damit anreichern)
  • keinen Chemikalieneinsatz im Wald, keine Kalkung oder künstliche Düngung
  • unbewirtschaftete, stillgelegte Referenzflächen (5-10 % der Waldfläche, im Privatwald auf freiwilliger Basis) ausweisen

Autor und Bild: Gerhard Rohrmoser, LIW-Seminardozent. Er lebt in Oberstdorf und betreut und entwickelt seit über 20 Jahren aktiv als Dipl.Forst Ing.FH naturnahe Dauerwälder, u.a. im Westallgäu.

Weitergehende Informationen

Wie naturnahe Waldwirtschaft auch an anderen Orten, so zum Beispiel dem Lübecker Stadtwald funktioniert, können Sie sich hier anschauen.

Wer tiefer in das Thema einsteigen möchte, wird hier fündig: Waldvision und im Positionspapier des Bundesamt für Naturschutz

Das LIW bietet mit Gerhard Rohrmoser Seminare im Westallgäu an, bei denen naturnahe Wälder besucht werden.