Wo ein Widerstand ist, ist auch ein Weg

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Gute Vorsätze? Die gibt es genug, nicht nur zu Silvester: Weniger Zucker, mehr Bewegung, Keller aufräumen, ein Buch schreiben. Aus Vorsätzen werden Ziele, vielleicht sogar Lebensziele. Warum der Wille allein oft nicht ausreicht, um Ziele zu erreichen, und was uns Widerstände sagen, erklärt Susanne Lehmann, M.Sc. im Change Management, seit fast zwei Jahrzehnten tätig als Trainerin und Coach.

Judith Hammer: Zu Jahresbeginn hatte ich viele gute Vorsätze – drei Monate später trinke ich doch wieder zu viel Kaffee, esse zu viel Süßes, und an meinem Roman bin ich nicht über ein paar Skizzen hinausgekommen. Was mache ich falsch?

Susanne Lehmann: Scheitergründe sind vielschichtig, es kann sein, dass das Ziel unrealistisch oder zu hoch gegriffen ist. Oder es passt schlicht und einfach gar nicht zu mir. Das kann daran liegen, dass die Ideen, beziehungsweise die Gründe für das Änderungsanliegen von außen – anderen Menschen, alten Glaubenssätzen – beeinflusst sind.

Judith Hammer: Es ist immer dasselbe: Ich nehme mir etwas vor, und mache es dann doch nicht. Auch Methoden zur Zielerreichung funktionieren nur begrenzt. Bin ich ein willensschwacher Mensch?

Susanne Lehmann: Sicher nicht. Als Kinder lernen wir vom Abschauen unserer Vorbilder, von den Eltern, Geschwistern, Lehrern, Medien und so weiter. Die Lernerfahrungen gehen ungefiltert, größtenteils vom Verstand ungeprüft, ins Unbewusste. Von dort werden sie dann wieder als Handlungs- beziehungsweise Überlebensstrategien abgerufen. Als erwachsene Menschen versuchen wir, intelligente, vom Kopf gesteuerte Methoden für unsere Veränderungswünsche zu nutzen. Das ist dann zum Scheitern verurteilt, weil es die falsche Herangehensweise für unsere Wünsche ist. Das Unbewusste versteht die „Kopfmethoden“ nicht.

Widerstände sind wertvolle Hinweise

Judith Hammer: Wie sehen solche Widerstände aus?

Susanne Lehmann: Aufschieben, Bockigkeit, zähe Energien, Müdigkeit, Schmerzen, Unlust, Unkonzentriertheit können Symptome sein.

Judith Hammer: Zuerst bin ich begeistert, dann tauchen Widerstände auf, oder es geht nicht voran. Mir ist klar, dass ich dann nicht einfach aufgeben sollte. Aber wie kann ich damit umgehen? Und die Widerstände kommen mir auch bekannt vor….

Susanne Lehmann: Diese Widerstände sind unsere eigenen, unbewussten inneren Anteile oder innere Teammitglieder, die sich gegen ihre „Entlassung“ wehren. Erst wenn alle einverstanden sind, und zusammenarbeiten, gelingt Veränderung. Die Transformation geht über Verständnis und Versöhnung der eigenen Widerstände. Sie sind wertvolle Hinweise, wo es noch Missverständnisse im eigenen inneren Team gibt. Hilfreich ist ein liebevoller, achtsamer Blick nach innen, um zu erforschen, worum es bei den Widerständen wirklich geht. Es stecken unerfüllte, nicht gelebte Bedürfnisse hinter den vom Unbewussten gewählten Strategien und Verhaltensweisen. Über das Entdecken, Würdigen und Versöhnen der inneren Widerstände führt der Weg zu kraftvoller, tragkräftiger Veränderung.

Judith Hammer: „Dann willst du es nicht genug“ habe ich schon gehört – ist es so einfach?

Susanne Lehmann: Veränderungswünsche, die ich mit dem Willen beeinflussen kann, sind leicht umzusetzen. Sie gelingen und gehen leicht von der Hand. Die Vorsätze und Wünsche, mit denen wir uns schwertun, folgen meist dem Prinzip der oben beschriebenen Widerstände. Der Wille ist dann das falsche „Werkzeug/Instrument“.

„Out of the box“ fühlen

Judith Hammer: Woran liegt es, dass manche Ziele schnell wieder von der Agenda verschwinden?

Susanne Lehmann: Oft versuchen wir, mit gewohnten Lösungsstrategien an Ziele heran zu gehen. Wir denken oder fühlen nicht „out of the box“. Wenn wir uns kreativen Prozessen widmen – und das sind Ziele, Wünsche und Träume bestenfalls – dann brauchen wir Zeit. Im Alltag haben die wenigsten Menschen genug Freiraum für Kreativität. „Effektives erfolgreiches Arbeiten braucht Muße“, haben Neurowissenschaftler herausgefunden. Es kann also gut sein, dass wir uns einfach nicht genügend Zeit nehmen, um auf kreative Lösungen zu kommen.

Judith Hammer: Andere Ziele dagegen kommen immer wieder, sie sind fast wie eine Sehnsucht. Was mache ich am besten damit? Sie scheinen fast zu wichtig zu sein … was steckt dahinter?

Susanne Lehmann: Wenn Ziele oder auch Träume immer wieder kommen, dann haben sie entweder mit echten Herzensangelegenheiten zu tun und unser Inneres macht uns darauf aufmerksam, dass hier etwas auf Erfüllung wartet. Dass ich diese Ziele nicht erreiche, hat oft mit alten Glaubenssätzen zu tun: Wie erfolgreich und glücklich ich wirklich sein darf, wie leicht etwas gehen darf oder ob ich es überhaupt „verdient“ habe. Die zweite Variante ist, dass mich andere Menschen beeinflussen, die es meistens auch gut mit mir meinen, aber dann sind es eben nicht meine eigenen Ziele und Wünsche.

Judith Hammer: Eigene Ziele, fremde Ziele – wie erkenne ich, welches wirklich meine sind, und nicht die meiner Eltern, Partner oder der Gesellschaft?

Susanne Lehmann: Es gibt hier wunderbare Methoden, beziehungsweise Voraussetzungen, die uns erleichtern, wahrzunehmen, was sich wirklich stimmig anfühlt und zu uns passt. Hierbei ist es unerlässlich, den eigenen Kopf, Bauch und das Herz zu fragen und alle drei zu Wort kommen zu lassen und auch auf Körperwahrnehmung zu reagieren. Wenn wir uns selbst gut kennen, können wir uns nicht mehr so leicht selbst täuschen.

Judith Hammer: Was haben meine Ziele mit meinen Werten zu tun? Oder ist das dasselbe?

Susanne Lehmann: Bestenfalls werden meine Ziele aus meinen Werten und/oder Bedürfnissen gespeist.

„Gute“ Ziele – „meine“ Ziele

Judith Hammer: Gibt es gute und schlechte Ziele? Oder welche Kategorien nutzen Sie lieber?

Susanne Lehmann: Ich glaube, über diese Frage habe ich mir schon lange keine Gedanken mehr gemacht. Denn: Für mich persönlich und in meiner Arbeit geht es um den Weg zu Stimmigkeit, Authentizität und Kongruenz. Das Anpassen des eigenen Wegs schließt „schlechte Ziele“ aus. Es ist eher ein Werteabgleich, wenn in einer Momentaufnahme meines Lebens kurzfristig andere Werte in den Vordergrund treten.

Dabei ist es mir in meinem eigenen Leben schon häufiger vorgekommen, dass Menschen mich als Paradiesvogel oder „irgendwie anders“ beschreiben. Damit gut zu leben, ist ein Prozess, denn der Wert Zugehörigkeit ist ja auch wesentlich für mich, aber die Etiketten der Gesellschaft und die Mainstream-Ziele des Systems haben noch nie so wirklich gut auf mich gepasst.

Judith Hammer: Was nützen Ihrer Meinung nach Methoden zur Zielerreichung, wie man sie in vielen Ratgebern findet?

Susanne Lehmann: Ich habe eine Lieblingsmethode zur Zielerreichung, weil sie meiner Meinung nach all unsere Kompetenzen wunderbar verbindet. Bei der „Walt Disney Strategie“ werden Bauch, Herz und Kreativität gefragt. Wir dürfen zuerst hemmungslos träumen, dann hilft der kluge Verstand bei der Planung und Verwirklichung, und auch der Skeptiker in uns kommt zu Wort und integriert Bedenken und Widerstände, die bei der Zielerreichung auftauchen können. Diese oder andere ähnliche Zielestrategien sind nachhaltiger als solche, bei denen es nur um intellektuell abrufbare Kriterien geht, wie bei zum Beispiel bei der SMART-Methode.

Gut genug sein und Ziele haben

Judith Hammer: Es ist schön, sich Ziele zu setzen, aber zugleich möchte ich mich auch nicht ungenügend fühlen. Ich bin doch schon gut genug, oder? Gibt es eine Brücke über diese Kluft?

Susanne Lehmann: Die großen Sehnsüchte in unserer schnelllebigen Zeit sind Einfachheit, Sinnhaftigkeit und Entschleunigung. Wenn wir z.B. Achtsamkeit praktizieren, üben wir im Hier und Jetzt zu sein, uns verbunden und dankbar zu fühlen. Dann gibt es keinen Bedarf für Ziele und Veränderung. Dann sind wir auch gut und komplett. Wenn wir aus dieser Haltung heraus Wünsche für unser Leben formulieren, bleibt immer Spielraum für intuitive und sinnvolle Anpassungen ohne Erfolgsdruck.

Judith Hammer: Apropos „gut genug sein“: Der Selbstoptimierungsdruck scheint groß zu sein … ich frage mich manchmal, wofür.

Susanne Lehmann: Es geht darum, mithalten zu können, alles ist ja scheinbar ein Wettbewerb, es gibt Boni für Leistung, wir werden rund um die Uhr verglichen. Auch hier ist es nicht so einfach, sich diesem vorgegebenen Rahmen zu entziehen, da er so normal und unausweichlich scheint.

Judith Hammer: Ein neues Auto, neue Kleidung – das antworten mir manche Menschen auf die Frage nach ihren Zielen. Und doch scheint es da eine Leere zu geben…was läuft da falsch?

Susanne Lehmann: Viele von uns haben das Gefühl, wenig oder keine Zeit zu haben. Wenn wir sie aber hätten, könnten wir uns aushalten in der Stille? Wir leben in einer Gesellschaft, in der für viele Menschen Kompensation oder Ablenkung zum Alltag gehören. Vermeintlich hilft das neue Auto oder die anderen neuen Gegenstände oder auch deren Beschaffung, damit wir uns kurzfristig gut fühlen. Das hält aber nicht lange vor, und kann süchtige Tendenzen annehmen. Es ist keine Befriedigung der eigentlichen Bedürfnisse und kann nicht nachhaltig zufrieden machen. Wenn wir uns keine Zeit für die wesentlichen Bedürfnisse, wie Liebe, Kontakt, Verbundenheit, Dankbarkeit nehmen, versuchen wir das Loch eben anders zu füllen – ohne Erfolg.

Judith Hammer: Etwas erreichen wollen – wie kann ich dennoch bei mir ankommen, nicht dauernd unterwegs sein, etwas hinterherlaufen?

Susanne Lehmann: Innehalten, Achtsamkeit praktizieren, mich fragen, wer ich wirklich bin und Zeit für Muße in den Alltag einbauen. Freundschaften und (kollegiale) Kontakte pflegen, mit Menschen, bei denen ich so sein kann, wie ich wirklich bin.

Die Fragen stellte Judith Hammer, freie Journalistin.

Foto: Ulrike Wörrle

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